Der Bub kostete 23 Euro
Von Peter Pisa
Wie viel muss man sehen, hören, lesen, damit es unmöglich ist, Mauern zu bauen (in Afrika, auf dem Meer, in den Köpfen)?
Christoph Ransmayr hat, als er 2004 den Bertolt-Brecht-Preis überreicht bekam, gesagt:
Ein Dichter könne dazu beitragen, seinem Publikum zur Immunität zu verhelfen gegen das Gegröle ...
Der Roman "Iman" ist ein Schrei aus Afrika; und gemeinsam mit der Reportage "Lampedusa" (siehe Zusatzbericht) eine Stärkung des Immunsystems.
"Iman" erscheint im Berliner Wagenbach Verlag, dessen Bücher seit 50 Jahren Schutzimpfungen sind.
Geschrieben hat es Ryad Assani-Razaki – geboren im westafrikanischen Staat Benin, als 23-Jähriger nach Kanada ausgewandert.
Ein gefragter Computerprogrammierer ist er und jetzt, mit 32, ein preisgekrönter Schriftsteller, der genau auf seine alte Heimat blickt.
In Benin, wo die meisten Jungen die Wahl haben, Bandenmitglied zu werden oder sich zu prostituieren, verdienen Lehrer 70 Euro im Monat. Die Fahrt übers Meer kostet mindestens das Zehnfache.
Im Kanal
Toumani wohnt im Slum – man darf annehmen: in der Küstenstadt Cotonou – ganz hinten beim Gebüsch, wo die anderen Bewohner ihre Fäkalien loswerden.
Er war sechs, als ihn sein Vater im Dorf verkaufte hatte, um 23 Euro, und dabei lächelte. Dieses Lächeln wird Toumani ein Leben lang verfolgen. Die Frau, die ihn in die Stadt mitnahm, vermietete Toumani an einen Sadisten, der ihn schließlich in einen Kanalschacht warf.
Wo Ratten von seinem Bein fraßen.
Das Kind wurde von anderen Kindern gerettet. Das Bein wurde amputiert.
Toumani wird in Afrika bleiben. "Wertlos von Anfang an", sagt er.
Wie das Mädchen Alissa wird er bleiben. Sie wurde ebenfalls verkauft. Und bricht aus der Sackgasse aus, in eine andere – sie näht lieber die Kleider der Prostituierten im Viertel, als den vorbestimmten Mann zu heiraten und fühlt sich deshalb sogar als "Adler am Himmel".
Nicht hassen
Aber Iman – der Dritte im Bunde aus Freundschaft, Liebe und Verrat –, der will sich nicht zerstören lassen. Der will nicht bösartig werden.
Er will nicht hassen wie seine Mutter, die Iman auf die Straße setzte: Denn sein Vater ist ein Weißer, ein Franzose, der zurück zur Ehefrau nach Europa ging.
Iman weiß, dass Europa kein Paradies ist. Alle wissen das. Aber hoffen werden sie doch wohl dürfen. Obwohl ein alter Heimkehrer den Jungen in Benin erzählt: In Europa habe es eine Zeit gegeben, "in der ich nicht mehr wusste, was es heißt, ein Mensch zu sein."
Die Stimmen wechseln einander im Buch ab. Die Gefühlskämpfe sind kompliziert und werden nicht vereinfacht. Das bringt die eine Stimme zum Verstummen, die grölt: "Anständige Menschen lassen ihr Land nicht im Stich." Was für ein Unsinn.
KURIER-Wertung:
... und dann sind die afrikanischen Flüchtlinge da, auf Lampedusa: halb tot oder tot, ertrunken, in Fischernetzen gefangen, von den Felsen zerschmettert. Der SüdtirolerZeit-Redakteur hat viel Zeit auf der kleinen Insel mit der großen Geschichte verbracht.
Er erzählt von Piraten und Zarin Katharina II – und von den heutigen Bewohnern, die sich von der Politik, von Europa, in Stich gelassen fühlen: Wie Grissini sind sie, zerbrechliche Brotstangen. Sie wirken hart; und zerbröseln leicht. Sie ärgern sich über die Zumutungen; und begraben die Unglücklichen aus Afrika zwischen den Einheimischen ... Eine Reportage, die gefehlt hat.
KURIER-Wertung: