Aberwitziger Zombieball: „Die Hauptstadt“ im Schauspielhaus
Von Thomas Trenkler
Kann es gelingen, „Die Hauptstadt“, diesen witzigen wie aberwitzigen Roman über Brüssel und die EU, für den Robert Menasse genau vor einem Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, in nur zwei Stunden auf der Bühne nachzuerzählen? Immerhin gibt es mehrere, parallel geführte Handlungsstränge und eine erkleckliche Anzahl von nicht unwesentlichen Figuren.
Am Wiener Schauspielhaus ist es sogar mit Bravour gelungen. Ohne Mätzchen, überraschend konventionell, mit einer klassischen Guckkastenbühne – und ganz nah am Text. Für die österreichische Erstaufführung haben Regisseurin Lucia Bihler und Dramaturg Tobias Schuster natürlich vieles komplett gestrichen, darunter den Mordfall, in dem Kommissar Émile Brunfaut gegen Widerstände der Obrigkeit ermittelt.
Das als Metapher dienende Schwein, das durch Brüssel rennt und binnen kurzer Zeit zum Medienstar wird, taucht ebenfalls nicht auf. Zumindest nicht physisch. Auch über das Schicksal von David de Vriend, einem Holocaustüberlebenden, mit dem der Roman einsetzt, wird „nur“ erzählt. Doch das ist stringent gedacht. Denn die Dramatisierung konzentriert sich anhand einiger Protagonisten auf das Macht- wie Ohnmachtgefüge in der EU.
Big Jubilee Project
Als Schauplatz dient eine Bar, von Ausstatter Josa Marx betont unterkühlt mit grünmarmorierten Steinplatten und Goldleisten eingerichtet. Da genehmigt man sich zur „Happy Hour“ einen Schluck – im Schauspielhaus schlürft man immerzu milchigen Ouzo, Leibgetränk von Fenia Xenopoulou, einer Karrieristin der Sonderklasse, die mit ihren Beamten Martin Susman (Simon Bauer) und Bohumil Smekal (Jesse Inman) zwecks Imageaufpolierung das „Big Jubilee Project“ realisieren soll. Sophia Löffler stöckelt, umgeben von gierigen Männern, im engen Kostümpanzer herum: wie alle anderen auch als Untote mit schwarzen Augenhöhlen.
Josa Marx bedient sich schminktechnisch eifrig und augenzwinkernd am Horrorfilm; Sebastian Schindegger als linkischer Professor Alois Erhart tappt staunend wie einst Herman Munster durch die bedrückende, mit wehmütigen Coverversionen von Elvis-Nummern grundierte Szenerie. Die Fäden in der Hand hält Bardo Böhlefeld als Barmann beziehungsweise vor allem als Erzähler: Dieser Cyborg, dem die Energie versiegen wird, lässt Bilder einfrieren und das Ensemble, darunter auch Steffen Link in drei Rollen, in Zeitlupe agieren – oder er spult die Handlung „fast forward“ weiter.
Auf dem Screen im Hintergrund sieht man abwechselnd Früchte, Blumen und Würstel voll mit Maden oder Insekten. Erst zum Schluss ergeben diese Teile ein imposantes Stillleben. Und wenn von David de Vriend und der Auslöschung die Rede ist, dann begräbt das Flimmern des vorderen Bildschirms das eingeblendete Augenpaar.
Danach wendet sich der Professor direkt ans Publikum: ein wuchtiger, wichtiger Appell. Heftiger Applaus.