Kultur

2170 Seiten: Mensch, wer bist du?

Vermutet hatte es Miroslav Krleža, verehrt in ganz Jugoslawien als Dichter, linker Intellektueller und Tito-Freund, ja immer.

Aber als er einen ihm gut bekannten Journalisten bat, er möge mit ihm gemeinsam etwas Erklärendes über "Die Fahnen" (1967) schreiben, da musste der Journalist ein Geständnis ablegen:

Er hatte den äußerst dicken Roman nie gelesen.

Fortan war Krleža besessen davon: Niemand las sein großes Werk. Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", mit dem "Die Fahnen" mitunter verglichen werden, wurde immerhin von einigen wenigen gelesen ...

Warum soll man sich denn die 2170 barocken Seiten des Kroaten "antun"?

"Um mit Miroslav K. der verlorenen Zeit nachzuspüren", antwortet der Klagenfurter Verleger Lojze Wieser.

"Um das Echo des Jahrhunderts in einer weitgehend unbekannt gebliebenen Tonalität einzufangen. Um die durchdringende und präzise Erzählung der Wandlung von Menschen und Gesellschaften aufzunehmen ... Miroslav K. lässt uns in die Welt von vor hundert Jahren eintauchen. Und er stellt die ewige Frage: Mensch,wer bist du?"

Die Idee einer Übersetzung geht aufs Jahr 1978 zurück. Der Autor ließ Wieser ausrichten, dafür sei er bereit, sein Werk auf 800 Seiten zu kürzen; noch weniger sei ihm unmöglich. Der damals erst 24-jährige Verleger war etwas überfordert, und dann starb Krleža, dann starb die damals beste Übersetzerin aus den jugoslawischen Sprachen, dann kamen Krieg und Frieden und andere Sorgen.

Aber jetzt ist es vollbracht, in fünf Bänden: eine Tragödie, die sich aus den kleinen Komödien der Menschen zusammen setzt.

Ein Beispiel für den schönen, barocken Stil:
"Es ist nicht das erste Mal, dass Durchlaucht spürt, dass das Einzige,
was er unternehmen könnte, wäre, sich wütend die Kleider zu zerreißen
und diese seine Ausgeburt auf ewig zu verstoßen, denn, wenn
er schon wegen seines verlorenen Sohnes verzweifelt, sollte man wissen,
wer er ist, woher er in unsere verworrenen und schlimmen Verhältnisse
kam, von welchen stolzen Ahnen und unter welchen ruhmreichen
Dächern, wenn er sich am Rande der krankhaften Melancholie in
quälender Ungewissheit über das eigene und das Schicksal des Herzens
seines Stammes verliert, wo sich immer fataler der Charakter
seines Einziggeborenen als eine unheilvolle Drohung abzeichnet und
ihn jeden Moment auf den Grund der Hölle stoßen könnte, zu den
Verdammten, deren Schicksal es ist, von der perversen Hand des eigenen
perversen Kindes zu stürzen …"

Zitat Ende.

Familiengeschichten aus dem blutigen Jahrzehnt 1912 bis 1922 sind das. Balkankriege, Weltkrieg, die Monarchie zerfällt, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen wird gegründet ...

Miroslav Krleža – der Salzburger Autor Karl-Markus Gauß erkannte es früh, hat der kroatischen Kultur den Weg nach Europa gezeigt. Seine "Fahnen" wurden u. a. mit finanzieller Unterstützung Kroatiens und, das kam auch für Lojze Wieser überraschend, des EU-Abgeordneten Eugen Freund herausgegeben.

Miroslav Krleža: "Die Fahnen" Wieser Verlag. Übersetzt von Gero Fischer und Silvija Hinzmann. 2170 Seiten in fünf Bänden. 75 Euro