Fabelhafte Welt: Nackte Männer in Angst
Von Vea Kaiser
Seit ich denken kann, liebe ich die Märchen der Gebrüder Grimm. Dementsprechend wollte ich mir vor einer Lesung im Kasseler Hügelland nicht entgehen lassen, jene Wälder zu erkunden, die viele dieser Märchen inspirierten. Ich zog die Laufschuhe an und joggte durch das Dickicht, doch weder Feen noch verwunschene Prinzen kreuzten meinen Weg. Einzig ein paar Haserln begegneten mir und stoben davon, kaum, dass sie meiner gewahr wurden. Zurück im Hotel machte ich der Sauna meine Aufwartung, wo, wie der Wochenplan am Eingang verkündete, heute der lokale Männergesangsverein saunierte. Während ich mich in der Kabine entkleidete, hörte ich die Adämmer muntere Geschichten erzählen und freute mich darauf, Zeit mit diesen Nachfahren der Grimm’schen Auskunftspersonen zu verbringen. In der Sauna lernt man einander ja oft besser kennen als man will. Und die Adämmer wollten nicht. Als ich den textilfreien Bereich betrat, verstummten sie. Diejenigen, die gerade noch ihre Glieder entspannt auf Liegestühlen hatten baumeln lassen, warfen sich hastig Bademäntel über. Als ich in der Vitalsauna Platz nahm, schauten die Schwitzenden auf ihre eigenen Körper. Der eine betrachtete seinen Bierbauch, der andere presste die Beine über den von der Schwerkraft in Mitleidenschaft gezogenen Kronjuwelen zusammen. Keine Minute später wuselten sie eilig davon, die Popschis notdürftig mit durchgeschweißelten Handtüchern bedeckend: „Muss noch Autowaschen“, „Frau kocht heute“ etc. Und plötzlich war ich allein. Gern hätte ich ihnen dasselbe zugerufen, wie den Tieren im Wald: „Fürchtet euch nicht, ihr scheuen Häschen, ich komme in Frieden!“ Doch ich war zu beschäftigt damit, mich zu wundern, dass die Anwesenheit einer einzigen Frau ein halbes Dutzend Männer in die Flucht schlagen kann. Die Gebrüder Grimm hatten Recht: Verhext ist das Kasseler Bergland.
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