Fabelhafte Welt: Der Philosoph in der Familie
Von Vea Kaiser
Viele große Köche sind ebenso große Philosophen. Das Kochen und das Philosophieren verbindet schließlich das ständige Nachdenken über elementare Fragen: Was braucht der Mensch? Und was macht ihn glücklich? Auch mein Schwiegervater ist ein großer Koch. Er führt seit 35 Jahren das beste italienische Restaurant der Innenstadt und ist zudem ein großer Philosoph. Seine gastro-philosophische Ausbildung erwarb er wahrscheinlich schon als Bub in Neapel. Dort wird nicht nur auf Weltniveau gekocht, sondern das Herumsitzen und Übers-Leben-Nachdenken seit der Antike praktiziert. Im Familienurlaub versuchte ich, möglichst viele seiner Küchengeheimnisse zu verstehen und kam dabei seiner Philosophie ein wenig näher: einer sokrateisch-atomistisch-stoischen Welthandlung! Als wir einer schwarzen Katze begegneten, ging mein Schwiegervater prophylaktisch in die andere Richtung. „Kann man nie wissen“, sagt er gerne frei nach Sokrates: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Eine seiner häufigsten Phrasen ist allerdings: „Lascia perdere“, übersetzt: „Lass es auf sich beruhen“, was in stoischer Tradition vor verschwendeter Energie und kontraproduktiven Emotionen warnt. Doch am meisten fasziniert mich sein Atomismus, der die Achtung vor den kleinen Bestandteilen dieser Welt einfordert. Wenn mein Schwiegervater kocht, dann widmet er sich jeder einzelnen Zutat. In seiner Küche merkte ich, dass es keinesfalls und niemals egal ist, wie reif, groß, rot eine Tomate ist oder dass es einen gewaltigen Unterschied macht, wie man Chili und Knoblauch schneidet. Das große Ganze wird nämlich nur wunderbarer, wenn man dem Kleinen Liebe und Zuwendung schenkt. Wie im Leben. Auch da stellt sich das große Glück nur ein, wenn man das kleine schätzt. Denn das Kochen und das Philosophieren haben am Ende des Tages dasselbe Ziel: Zufriedenheit.
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