Es gilt die Schuldvermutung
In einem Schuhgeschäft bat ich die Verkäuferin mehrmals, im Lager nach anderen Sneakers zu suchen. Irgendwas passte immer nicht. Länge, Breite oder Anzahl der Belüftungslöcher. Eine halbe Stunde später lagen elf Paar Sneakers vor mir, doch überzeugen konnte mich keines. Gleichzeitig meldete sich in mir dieses „Die-Verkäuferin-hat-sich-so-bemüht“-Gefühl. Mit Gewissensbissen im Herzen blickte ich der vor mir knienden Schuhfachfrau lange in die Augen und sagte dann: „Ich glaub’, ich nehm zwei Sohlenwärmer.“ An diesem Tag hatte es im Freien 29 Grad.
Auf der Straße notierte ich in mein Handy ein neues Wort: Nicht-Schuh-Kauf-Scham. Ich führe seit Jahren eine Liste, wofür sich der moderne Mensch schämen kann. Flugscham, Verbrennungsautoscham, Gasheizungsscham, Zu-wenig-Wasser-trink-Scham, Gurke-in-Plastik-Kauf-Scham, Karrierescham, Nicht-Karrierescham ...
Der Speicher meines Smartphones ist zu 70 % belegt mit Schamgefühlen. Mittlerweile schäme ich mich, wenn ich im Supermarkt eine leicht bräunliche Banane in die Hand nehme und am Ende doch gegen eine attraktivere Artgenossin austausche. Zurück-leg-Scham. Als Kind dachte ich, ein Schamane ist jemand, der sich sehr viel schämt. Wäre das der Beruf, ich hätte ihn sofort ergriffen. Ein paar Tausend Jahre wanderte der Homo Sapiens splitternackt über die Erde, bis jemand sagte: „Schäm dich! Gott will, dass du dein Geschlechtsorgan bedeckst! Außer in der Sauna, da darfst du!“. Religion ist sehr kompliziert. Vielleicht kamen die Schamhaare so zu ihrem Namen. Weiters auf meiner Liste: Bei-Amazon-bestellt-Scham, Zahnseide-vergessen-Scham, Fürs-Schämen-schäm-Scham.
Bei aufkeimenden Schamgefühlen finde ich nur noch Trost bei folgendem Gedanken. Das Leben ist ein Wettbewerb und wer am meisten falsch macht, hat gewonnen. Ich glaube, ich stehe kurz vorm Highscore.