Chaos de Luxe: Ahnen-Surfen
Von Polly Adler
Polly Adler über Krisen, an denen wir angeblich wachsen
Manchmal vermisse ich meine Großmutter so sehr, dass sich ein kleines Messerballett in meinem Herzen bemerkbar macht. Ich habe aber ein fantastisches Schmerzmittel gefunden: das Album. Ein riesiges, vergilbtes Lederding, auf dessen Innenseite sie mit zittriger Schrift, ein paar Monate vor ihrem Tod, geschrieben hat: „Dieses Album bekommt meine älteste Enkelin P.“ Danke, Granny, dass du mich auch daran erinnerst. Das Ding sieht aus wie aus dem Hogwarts-Archiv. In jedem Fall surfe ich dann durch meine Ahnen-Landschaft, denn in diesem Buch sind alle versammelt, die mich irgendwie auch ausmachen. Der kess blickende Urgroß-Onkel Franz, der die kleine Armaturen-Fabrik in Kagran knallhart verzockt hat. Der Mann hatte charmanten Dreck im Auge. Mein Urgroßvater, der einzige Widerstandskämpfer in der Familie, der nahezu blind und im greisen Alter 1939 durch die Straßen spaziert ist, um das eurokommunistische Manifest zu verteilen. Das sollte ihn seinen Kopf kosten. Der Rest der Familie besaß leider das Mitläufer-Gen. Meine wunderbare Oschi als Mädchen mit riesiger Samtmasche am Kopf und Schnürstiefelchen. Ihr späterer Mann, mein Opa, im weißen Babyhemd an seinen Zwillingsbruder gekuschelt, der sich im Alter von 18 Jahren mit einem Jagdgewehr in einem Graben hinter dem Sommerhaus „Am Himmel“ erschossen hat. Meine Tante Lou, die Schwester, die sich in den 1920-ern einen Liebhaber organisiert hatte, der ihr einen Fortpflanz machte, weil ihr eigener Ehemann für die Vervielfältigung als zu langweilig erschienen war. Meine Tochter sah als Baby genauso aus wie sie. Ich dachte an Herrn Tolstoi und den ersten Satz aus „Anna Karenina“: „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Doch angeblich sind es ja die Krisen, an denen wir wachsen. Sauanstrengend. Aber glücklich sein kann schließlich jeder Idiot.
Bless you, Oschi!
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