Barbara Kaufmann: Steine im Bauch
Es gibt Ereignisse, deren Schwere sich über den Tag legt. Nicht sofort, nicht in dem Moment, in dem man von ihnen erfährt. Denn der Alltag gewinnt immer. Zumindest so lange, bis er bewältigt ist. Man muss das Kind zur Schule bringen, den Bus erreichen, Aufträge abarbeiten. Man muss zum Beispiel zur Versicherung fahren, um endlich eine Bewilligung für die Therapie des kaputten Rückens zu bekommen. Man muss sich dort anstellen, eine Nummer ziehen, sich aufregen, weil das Warten ewig zu dauern scheint. Auch weil das Aufregen gut tut an so einem Tag. Weil nämlich das, worüber man sich ärgert, so harmlos ist, so überschaubar, so leicht zu verstehen.
Erst wenn man zur Ruhe kommt, drängen sie sich wieder ins Bewusstsein. Die schrecklichen Dinge, die geschehen sind, die man noch kaum begriffen hat. Und auch wenn sie jemandem anderen widerfahren sind, ist man doch persönlich betroffen. Entsetzt von ihrer Brutalität, erschrocken über ihrer Monstrosität, fassungslos über das Grauen, das in den Alltag eingebrochen ist.
Erst wenn man Zeit hat nachzudenken, beginnt man zu grübeln und die Gedanken darüber, wozu der Mensch fähig ist, legen sich wie ein Schatten über den Tag, der nach und nach alles verdunkelt.
Man sieht die Fernsehbilder vor sich, das Gesicht der Reporterin, die etwas kommentieren soll, wofür es eigentlich keine Worte gibt. Und kurz meint man ihr ansehen zu können, dass sie sich das selbst gerade denkt. Die schrillen Schlagzeilen des Boulevard stechen einem am Heimweg am Kiosk ins Auge. Und sie schmerzen, weil alles vereinfacht wird, was unbegreiflich ist, weil Antworten geliefert werden, für die es noch gar keine Fragen gibt, weil das Böse doch gar nicht so banal sein kann wie die Seite Eins. Und wenn doch?
Schatten
Vor ein paar Tagen war so ein Tag, dessen Schatten ich nicht abschütteln konnte, so sehr ich mich auch bemühte. Und ich fühlte mich am Heimweg schwer und langsam wie der Wolf in dem Märchen, das ich gerade den zwei kleinen Töchtern einer Freundin vorgelesen hatte, nachdem sie ihm die Wackersteine in den Bauch gelegt hatten. Da lag etwas in meinem Magen, drückte aufs Herz, nahm mir den Appetit, machte das Gehen schwer. Ich lehnte mich an den Zaun vor der Anlage, in der ich wohne und dachte plötzlich an meine Urgroßmutter und Pfirsichkompott. Sie war keine große Köchin gewesen, sondern Krankenschwester in zwei Weltkriegen. Sie hatte Menschen in ihren Armen sterben sehen, sie war selbst verschüttet worden und hatte Stunden unter Geröll liegend nicht gewusst, ob sie je wieder die Sonne sehen würde. Sie hatte einen krebskranken Mann gepflegt bis zu seinem Ende. Sie ließ sich ihre Anspannung nie anmerken. Man erkannte sie nur daran, dass es in ihrer Wohnung nach Kompott roch. Denn dann kochte sie plötzlich Früchte ein, kiloweise, stundenlang. Um sich abzulenken, die Händen zu beschäftigen, etwas festzuhalten. Noch lange nach ihrem Tod stapelten sich die Einmachgläser mit den Pfirsichen in unserem Keller.
Ich wünschte mir kurz, ich könnte auch Kompott kochen. Doch selbst wenn, hätte ich niemanden, der es essen würde. Also ging ich noch ein paar Runden um den Block, so lange, bis ich zu müde war, um nachzudenken.