Zeugung verschoben, mehrfach geboren und andere Absurditäten
Von Heinz Wagner
Sein Vater wollte, dass der Sohn zu Neujahr auf die Welt komme. Und so sollte er neun Monate davor, also an einem 1. April, gezeugt werden, begegnete der kommenden Mutter aber mit „Hahaha, 1. April, 1. April“ – so wurde nichts draus. Im Jahr darauf fürchtete die Frau, es könnte ihr dasselbe widerfahren und so winkte sie gleich ab. 1905 klappte es – mit Anläufen, denn die Hebamme hätte den auftauchenden Kopf zurückgeschoben – so sei er mehrmals geboren worden. Diese ziemlich absurde Geschichte schrieb Daniil Charms über seinen Anfang als Daniil Iwanowitsch Juwatschow am 30. (nach gregorianischem Kalender) Dezember 1905.
Verboten
Diesem spät entdeckten Schriftsteller, Dichter, Theaterautor und Zeichner der späten 20er bis Anfang 40er Jahre in der damaligen Sowjetunion widmet das TheaterArche einen eineinhalb-stündigen Abend (bis 16. Mai 2018). Spät entdeckt, weil das meiste das Juwatschow, der seine Texte mit verschiedenen Pseudonymen unterschrieb, von denen sich Charms letztlich durchsetzte, verfasst hatte, zu seiner Zeit verboten oder einfach nicht veröffentlicht wurde. In seinen Texten – ob Kurzgeschichten, Gedichte, Anekdoten, Theaterminiaturen – setzte er sich auf oft schwarz-humorige bis absurde Weise mit realen Absurditäten des Alltagslebens auseinander. Als angeblicher Feind des Sozialismus wurde er mehrmals verhaftet und verhungerte Anfang Februar 1942 in der psychiatrischen Anstalt des Leningrader Kresty-Gefängnisses während der Belagerung der Stadt durch deutsche Wehrmachtstruppen.
Improvisierend angenähert
In vielen Improvisationen hat sich ein interdisziplinäres und interkulturelles Ensemble aus zwölf Menschen unter Leitung eines Charms-Kenners als Regisseur und Dramaturg dem Künstler und seinem Werk – samt persönlichen Aufzeichnungen und Briefen stückweise angenähert. Mitunter wurden Texte erst nachträglich improvisierten Szenen zugeordnet. Von einer Clownin über eine als Pflanze geschminkte rollende Darstellerin über auf Klischee-Russ_innen getrimmte Schauspieler_innen bis zu einem glatzköpfigen Gefängnis-Insaßen, der Charms sein könnte, reicht der Bogen des „Personals“, das teils auch Russisch spielt.
Gefängniszelle
Die Szenerie wird im Hintergrund von einer grau gestrichenen Wand mit einigen schwarz aufgemalten Wörtern in kyrillischen Buchstaben begrenzt. Groß und deutlich sind die Lettern für OBERIU (für „Vereinigung der Realen Kunst“) zu erkennen. Ihr hatte Daniil Charms angehört. In einer Ecke steht Smert (Tod) und Golod für Hungersnot. Irgendwo hört der Schriftzug Wwedens – nach dem C (kyrillsch für S) auf – Wwedenski, ein anderer Dichter, gerade verhaftet... An einer Stelle erscheint ein kleines Loch im Lack, Ziegelsteine sind zu sehen. Ist nur der Lack ab? Oder wurde/wird versucht, an der Mauer zu kratzen, vielleicht doch gar ein Loch in die Freiheit zu graben? Auf Deutsch ist noch ein Zitat des Künstlers zu lesen: „Was braucht der Mensch mehr als Leben und Kunst?“ und die Fortsetzung „Ich denke nichts“ steht an anderer Stelle – so als würde sie eine eigene Aussage sein.
So und anders
Der Abend, der natürlich, weil es Charms Werk nicht entsprechen würde, keine lineare Erzählung darstellt, lebt von der Vielzahl mitunter absurd anmutender Gschichterln. Oder dem einfachen Aufzeigen verschiedener perspektiven durch banal unterschiedliche Artikulation ein und desselben Satzes. „Ich heirate heute“ zunächst von einer jungen Frau in freudiger Erwartung geäußert wird durch ein zackiges fast befehlsmäßiges Ausspreeechen eines Soldaten – naja. Dann wird er von einer anderen Darstellerin als Arie gesungen, eine weitere gibt ihn eher unglücklich von sich. Aber erst als gegen Ende dieser Szene die freudige Frau vom Beginn auf eine andere trifft, die beginnt die Worte zu zerlegen – welcher Rat? Und was ist „hei“? wird’s völlig crazy.
Prinz und Schwein
Mitunter arbeitete Charms mit den Mittelnder sehr häufigen Wiederholung, um einen Gedanken oder einen Dialog ins Komische zu drehen. So auch die Geschichte von zwei Suppe-Essenden, in der einer von sich behauptet, ein Prinz zu sein. Und der andere einfach fragt, ob er ihn nicht dennoch mit Suppe bespritzen könnte. Was der mit dem Schimpfwort „Schwein“ quittiert.
Den Tod ausgelacht
In nicht wenigen der Texte und Szenen dreht sich vieles um den Tod – eine reale Bedrohung in der Zeit des Autors – von innen, aus dem Land selbst, her, aber später auch von außen, spätestens nach Beginn des zweiten Weltkrieges. Der Schrecken, die Angst scheint durch teils ziemlich absurd wirkende Geschichten gebrochen zu werden. Eine beginnt so: „Eines Tages aß Orlow zu viel Erbsenpüree und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonows Frau fiel vom Buffet und starb auch...“
Aus vielen seiner kurzen, fast anekdotischen Geschichten, aus Gedichten, Theatertexten, aber auch privaten Aufzeichnungen und Briefen stellte TheaterArche die szenische Collage zusammen, die der schrägen Sicht auf die (nicht nur) seiner Meinung nach ver-rückte Welt ziemlich nahe kommen dürfte. Der bunte, teils sehr witzige, teils ziemlich heftige Abend gleicht manches Mal einer Art Geisterbahnfahrt durch den Alltag einer Gesellschaft, die nach der kurzen Phase eines – auch künstlerischen - Aufbruchs zu einem starren, autoritären System verkam.
Infos: Was? Wer? Wann? Wo?
Das ist eigentlich alles.
Szenische Collage nach Miniaturen von Daniil Charms
TheaterArche
Regie, Dramaturgie und Raumkonzept: Vilmos Nagy
mit:
Jörg Bergen, Elisabeth Kofler, Božena Wanda Kunstek, Peter Matthias Lang, Corinna Orbesz, Miriam Papst, Liudmila Puhachova, Barbara Schandl, Johannes Scherzer, Cornelia Scheuer, Florian-Raphael Schwarz, Alla Stöckl
und Stimmen von Bernhardt Jammernegg und Jakub Kavin
Musik: Barbara Schandl, Miriam Papst
Bühnenbild: feminist killjoy
Kostüme: Cornelia Scheuer, Miriam Papst + Ensemble
Produktionsleitung, Co-Regie, Technik und Fotos: Jakub Kavin
Wann & wo?
Bis 16. Mai 2018, jeweils 20 Uhr
Theater Delphin, 1020, Blumauergasse 24
Reservierungen: office@theaterarche.at
www.theaterarche.at