Peter, Freund von Anne Frank
Es war einmal und ist noch immer ein 18-jähriger Bursche.
Peter, sein Name. Er ist euch allen bekannt. Er lebt im Jetzt, geht gleich um die Ecke zur Schule und ist euer Nachbarsjunge, der
Sonntagmorgen immer den Müll hinausträgt. Während er pfeifend das Stiegenhaus hinuntergeht, schwelgt er meist so sehr in Gedanken, dass er den Biomüll in den Plastikcontainer wirft. Oder umgekehrt.
Am Freitag fährt er auf Schulausflug. Mit seiner gesamten Klasse. Und der Geschichtelehrerin. Ins Konzentrationslager Mauthausen, fährt er. Es ist ein wolkenloser Tag, die Sonne brennt auf Peters hellbraunes Haar. Um die Beschriftungsschilder zu entziffern, muss Peter seine Augen zusammenkneifen.
Häftlingsbaracke, steht dort geschrieben. Russenlager, Duschraum, Krankenlager. Peter bekommt Gänsehaut. Peter schwitzt in seinem langen Shirt. Und doch zittern seine Knie. So
leicht, dass niemand es bemerkt.
Die Schüler holen sich etwas zu trinken, einige Snacks. Paul lehnt sich an die Mauer. Warm sind ihre Steine, von der Sonne. Lisa setzt sich neben ihn. Lisa. Puh, was für ein langer Tag
heute, sagt sie. Und so heiß! Peter nickt, lächelt sie an. Sie lächelt zurück. Wie ihre Augen leuchten! Wenn er doch nur etwas weniger schüchtern wäre, würde er ihr das sagen. Das
und alles andere. Von Lisas Eis tropfen rote, gelbe Farbpunkte auf den Asphalt. Auf den Asphalt, der früher kein Asphalt gewesen ist, sondern ein erdiger, bei Regen schlammiger Platz. Der Appellplatz.
Stundenlang hatten die Inhaftierten hier stramm stehen müssen, bei eisiger Kälte, ausgehungert und barfuß. Und nun sitzt er hier. Gesund, gut genährt, im Sonnenschein. Lisa
lehnt sich an seine Schulter. Total anstrengend, das Ganze bei dieser Hitze zu besichtigen, sagte sie. Sie schleckt an ihrem Eis. Peter sieht sie an. Doch diesmal lächelt er nicht.
Die Führung geht weiter. Sie gehen zum Friedhof, in den Raum der Namen. Protokollierte Leichen. Neunzigtausend Todesopfer. Leben voller Wünsche und Träume, die hier ihr Ende
gefunden haben. Hinter jedem Namen, unzählige Betroffene. Familie, Freunde, Bekannte.
Dunkel ist der Raum, die Toten sind es, die Peter zu leuchten. Hebräische, armenische, griechische Schriftzeichen. Franzosen, Italiener, Polen, Österreicher sind unter den Opfern.
Im zwanzig Kilogramm schweren Register findet Peter auch seinen eigenen Namen, dutzende Male. Erschossen, Arbeitsunfall, Krankheit, Fluchtversuch lauten Peters Todesursachen. Peter findet eine Lisa unter den Namen der Protokollierten. Einen Beistrich weiter liest er: Frei gewählter Tod.
Die Führung ist zu Ende. Die Klasse ist schweigsamer als sonst. Doch in Peters Kopf flüstern und rufen und brüllen Gedanken, laut. Lauter noch als sonst. Diesen Tag, er wird ihn nicht
vergessen. Das Eis essen an der warmen Mauer mit Lisa nicht. Die Gaskammer und die Todesstiege am Steinbruch auch nicht. Und dieses Gefühl, dieses Gefühl der Unvereinbarkeit
dieser zwei Ereignisse an diesem einem Ort schon gar nicht.
Auf der Rückfahrt denkt Peter nach. Ein Ort. Vielleicht ist ein Ort wie ein Mensch, denkt er. Vielleicht ist jeder Ort
Heim von Gutem und von Bösem, von schönen und von schrecklichen
Momenten. So wie ein jeder von uns und wir als Menschheit zu beidem in der Lage sind. Peter van Pels und Peter, euer Nachbarsjunge, hätten ein und dieselbe Person sein können.
Beide waren und sind schüchtern aber verträumt, still aber nachdenklich. Beide waren und sind verliebt. Nur dass wir Lisas Tagebuch nie lesen und Peter van Pels‘ Leben als Erwachsener nie kennenlernen werden. Denn dieser Zukunft wurde er beraubt.