Wissen/Gesundheit

Streitfrage Impfpflicht: "Das könnte die Gegner mobilisieren"

Um das Thema Impfen gehen die Wogen wieder hoch. Ein sechsjähriger Bub ist in den USA an Tetanus erkrankt, seine Eltern waren Impfgegner. Die wochenlange Behandlung auf einer Intensivstation kostete rund 800.000 Dollar – die Rehabilitation noch nicht eingerechnet.

Der deutsche Historiker Malte Thießen hat die Geschichte des Impfens in Europa wissenschaftlich untersucht. Dabei stellte er fest, dass starke Ängste vor dem Prinzip des Impfens – dem Injizieren eines Krankheitserregers, um das Immunsystem zu aktivieren – immer schon vorhanden waren. Die Impfung sei dennoch eine große Erfolgsgeschichte. Impfpflichten und staatlicher Zwang hätten ihren Zweck hingegen nicht erfüllt.

KURIER: Die Wiener Ärztekammer fordert in Österreich eine Koppelung des Kinderbetreuungsgeldes und der Familienbeihilfe an das Impfen der Kinder. Eine gute Idee?

Malte Thießen: In historischer Perspektive habe ich da einige Fragezeichen. Erstens brachte eine Impfpflicht in der Geschichte immer den Polizei- und Verwaltungsapparat in Stellung und führte zu unglaublichen Kosten. Zweitens sind die Impfskeptiker oder Impfgegner durch eine Pflicht eher noch mobilisiert worden. Sie argumentieren dann: Der Staat zwingt uns etwas auf und dringt in unser Selbstbestimmungsrecht ein. Und drittens gibt es immer Leute, die nicht geimpft werden können oder sich entziehen.

Gibt es ein historisches Beispiel für den ausbleibenden Erfolg?

In den 1930er Jahren wurde in Deutschland die Diphtherie-Schutzimpfung eingeführt – als freiwillige Impfung. Die Pockenimpfung lief als gesetzlich vorgeschriebene Impfung weiter. Wer sie nicht machte, wurde polizeilich verfolgt. Die freiwillige Diphtherie-Impfung hatte trotzdem mehr Zustimmung. Die Impfquoten gegen Pocken lagen damals zwischen 60 bis 80 Prozent, jene der Diphtherie-Schutzimpfung immer weit über 90 Prozent.

Daraus kann man schließen, dass Werbung und Aufklärung vermutlich viel effektiver sind. Für die Diphterieschutzimpfung wurde in Kinos, mit Theaterstücken und Radioprogrammen – in damaligen Verhältnissen multimedial – Werbung gemacht. Das hat funktioniert und ist angekommen.

Die Ärztekammer fordert aber ja nur finanzielle Sanktionen, wenn man seine Kinder nicht die gratis angebotenen Impfungen machen lässt – also keine Pflicht.

Auch da weiß ich nicht, ob das den Zweck erfüllt. Es wäre ja durchaus eine indirekte Impfpflicht, denn die Verknappung von Sozialleistungen ist zum Teil existenziell. Historisch kann man feststellen, sobald man das Impfen an Sanktionen koppelt, wächst das Misstrauen. In der Öffentlichkeit beflügelt das dann die Meinung: Warum braucht es für eine Maßnahme, die sinnvoll ist, diesen Zwang?

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Woher kommt die auch heute noch verbreitete Angst vor der Schutzimpfung?

Die Impfgegnerschaft ist so alt wie die Impfung selbst. Mit der Einführung der ersten Impfung gab es bereits Kritik. Ende des 18. Jahrhunderts kam diese vor allem von religiösen, also kirchlichen Akteuren. Das Impfen wurde als Eingriff in Gottes Schicksal gesehen. Ende des 19. Jahrhunderts kam dann die Impfkritik aus der Lebensreformbewegung auf. Die Impfung wurde als unnatürlicher Eingriff in die Immunisierungs- und Abhärtungsprozesse des Körpers abgelehnt. Dieser Strang zieht sich im alternativen Milieu bis heute durch. Ein klassisches Argument ist, es sei viel besser, wenn das Kind die Krankheit durchmacht.

Gibt es noch andere Wurzeln moderner Impfskepsis?

Ein weiterer Strang ist die Angst vor dem allmächtigen Staat, die eben mit Impfpflichten eher hochkocht. Der heute wohl wichtigste Strang ist aber die Kritik an der Pharma-Industrie. Da gibt es Verschwörungstheorien, die Pharma-Industrie würde Impfstoffe vermarkten, die gar nichts bringen oder unsicher sind. Man muss dazusagen, diese Theorien sind über die Jahrzehnte durch einzelne tatsächliche Impfskandale befeuert worden.

Die damaligen Motive der Lebensreformbewegung sind ja verwandt mit jenen heutiger impfskeptischer Eltern, die ihre Kinder häufig nach reformpädagogischen und alternativmedizinischen Konzepten erziehen.

In Deutschland gibt es das böse Wort vom „Seuchenherd Prenzlauer Berg“. Das ist in Berlin jener Stadtteil, in dem eher wohlhabende Eltern aus dem alternativen Milieu leben. Tatsächlich gab es dort mehrere Masernausbrüche. Akademische Abschlüsse und ein individueller Lebensstil gehen beim Thema Impfen eher einher mit einer gewissen Skepsis und Zurückhaltung.

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Hängt die Zunahme der Impfskepsis auch mit der Individualisierung unserer Gesellschaft zusammen?

Auf jeden Fall. Die Impfgegnerschaft ist wie ein Seismograph für verschiedene Lebensstile und alternative Lebensweisen. Man muss verstehen, dass es beim Impfen um sehr viel mehr geht als um den Pieks. Es geht um Weltanschauungen und um die Vorstellung, was ein gesundes, gutes Leben ist.

In Österreich entzündet sich der Konflikt gerne um die MMR-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln. Woran könnte das liegen?

Impfungen haben grundsätzlich ein Riesenproblem: Je besser sie funktionieren, desto weniger sind alte Volkskrankheiten im Alltag präsent. Krankheiten werden dadurch weniger ernstgenommen. Impfungen sind die Opfer ihres eigenen Erfolges.

Zur Person: Malte Thießen (44) ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Oldenburg und Leiter des Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster. Er ist Autor des Standardwerks "Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert" sowie mehrerer Aufsätze über die Geschichte des Impfens in der Weimarer Republik, der NS-Zeit, der DDR und der Bundesrepublik.