Leben

Hochzeitstag

Die Liebste und ich begingen unseren Hochzeitstag. Da wühle ich dann unsere Hochzeitskerze aus dem Grusch, ein noch immer einen knappen Meter langes weiß-rotes Paraffin-Kunstwerk, zünde sie an und stelle sie den Tag über auf den Küchentisch. Die Brut streift an diesem Licht vorbei, und ich glaube, sie ist berührt, entweder von ihren lieben Eltern oder schlicht vom Vergehen der Zeit. Am Abend ließen wir die Kinder vor diversen WM-Matches zurück und flogen aus. Mit den Radln, die Liebste hat sich ein neues, schwarzes und geschmeidiges besorgt. Wir fuhren zuerst zu einem Wirten in den Zweiten, wo wir etwas Gutes aßen, und wie durch ein Wunder kam genau jener Friseur Erich vorbei, bei dem wir einander vor bald zwei Jahrzehnten kennengelernt haben. Dann fuhren wir weiter in die Brigittenau, versperrten die Radln bei der U6-Station Handelskai und reihten uns in die Prozession ein, die zum ersten Abend des Donauinselfestes strömte. Auf der Insel staunten wir über die mögliche Menge von Menschen auf einzelnen Plätzen und über die mögliche Menge von Alkohol in einzelnen Menschen. Es fühlte sich an wie ein System aus gigantischen Rindermägen, wir waren das Heu, wurden mit schmatzenden Geräuschen von Magen zu Magen geschleudert und allmählich verdaut. Irgendwann hatten wir genug und kehrten zu den Radln zurück. Es kam der schönste Teil des Hochzeitstages: Wir schnurrten durch die bewegungslose Schönheit der Engerthstraße mit ihren majestätischen Gemeindebauten. Die Wiener Sommernacht war, wie sie sein soll – stumm, filmisch, rätselhaft. Ein Chinese in Hemd und Krawatte lief zum Nachtautobus. Krähen im Halbschlaf segelten über die Engerth. Über Lassalle und Praterstern kamen wir in die Hauptallee. In einem eisblau erleuchteten leeren Pratercafé spielte jemand Buddy Holly. Zwei Buben balancierten mitten in der Nacht auf einem Radl. Beim Donaukanal kamen Feuerwehrleute von einem Einsatz zurück. Und dann roch es nach Erdberg. Ich bremste, blieb stehen und küsste meine Frau.