Leben

Wacken: "Lebe deinen Traum!"

Wer schwankt, hat mehr vom Weg“ steht auf einem Schild, das ein Hausbesitzer an seinem Garagentor angebracht hat. Hier gibt's Shots um einen Euro. Und ein Getränk namens „Höllenschiss“ um 50 Cent, da kann man nicht meckern. „Yeah, Holyshies!“, sagen die drei hübschen Kolleginnen aus London und schließen sich einer Gruppe bärtiger Männer an, die wie sie ein derartiges Angebot nicht ausschlagen wollen. In einer Reihe ebenfalls bärtiger Männer stehe ich mit meinem neuen Freund Renaud, einem Kollegen aus Paris, gleich gegenüber vor dem örtlichen Supermarkt. Wir hoffen zwei der letzten Gummistiefel-Paare zu ergattern, die der Laden zu bieten hat. Rolling-Stone-Redakteur Marco aus Mailand wartet draußen. Um nichts in der Welt würde er seine schicken Schlüpfer gegen etwas derart Hässliches tauschen ...

Innerhalb weniger Tage wächst das idyllische 1.800-Einwohner-Dorf Wacken im hohen Norden Deutschlands alljährlich Anfang August zu einer Hardrock-Metropole mit gut 90.000 Bewohnern an. Das Erstaunliche: Während man sonst versucht, Festival-Besucher, die „Wilden“ also, möglichst weit weg von jeder Zivilisation abzufertigen, um angeblich vorprogrammierte Wickel zu vermeiden, ist das Dorf Wacken seit 25 Jahren integraler Bestandteil des „Wacken Open Air“ – und das ist immerhin die größte Heavy-Metal-Veranstaltung der Welt. Anrainer stellen Bierbänke in ihren hübschen Vorgärten auf oder bieten Zeltplätze an, verkaufen Gummistiefel, Regenschutz und Souvenirs, überall wird gegrillt und ausgeschenkt, sogar in der Auslage der Apotheke hängen E-Gitarren über dem deutlich vergrößerten Aspirin-Sortiment. Bärte, wohin man blickt, da sind sich Hiesige und Gäste durchaus einig, auch das Vormittagsbier soll sich in ländlichen Gemeinden durchaus noch gegen Mango Lassi und grünen Smoothie behaupten. Kein Grund also, pikiert die Nase zu rümpfen: Wer die Tradition ehrt, kann kein Schlechter sein. Metal-Fans aus aller Welt flanieren in einem endlosen, schwarzgekleideten Strom durchs Dorf, shoppen, konsumieren und verwandeln die ehrwürdige Dorfstraße in eine eigenartige Mischung aus Touri-Promenade à la Caorle und Mariahilfer Straße zur Vorweihnachtszeit. Unangenehmerweise passt die Temperatur in diesem Jahr eher zum zweiten Bild ...

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„Heuer ist das Wetter fast noch schlimmer als 2012“, sagt Julian aus Bremen, der mit seinen Freunden schon zum siebten Mal dabei ist. „Aber egal, das hat schon auch seinen Reiz. Hauptsache, man ist richtig vorbereitet“, erklärt er und schaut ein wenig skeptisch auf meinen Minischirm mit rosa Kätzchen drauf, den mir eine der englischen Kolleginnen geborgt hat, weil ich regentechnisch nicht ganz so gut vorbereitet war. Immerhin hab ich inzwischen hübsche blaue Gummistiefel. „Da schau, das sind auch Frischlinge – die kommen nicht weit“, sagt Julian und zeigt auf ein Pärchen, das in Turnpatschen unterwegs ist, den chicen Trolley lässig im Schlepptau. „Sowas brauchst du hier – mit genügend Bodenfreiheit, siehste?“ Grinsend klopft Julian auf die beiden Transportrodeln, auf denen er und seine Freunde einige Paletten Dosenbier, Grillkohle und Großpackungen mit Bratwürsten transportieren. Professionell mit Stretchfolie gesichert, selbstverständlich. Zum Abschied hält mir der Informatik-Student Zeigefinger und kleinen Finger unter die Nase: Mano cornuta.

Die von Gene Simmons und Ronnie James Dio zum internationalen Metal-Gruß gemachte Faust mit den beiden ausgestreckten Fingern ist in Wacken allgegenwärtig. Plakate, Skulpturen, sogar Schmuckstücke beim Juwelier, der sein Schaufenster dem Anlass angepasst hat. Auch Manfred, ein Frühsechziger aus Ludwigshafen, begrüßt mich lässig mit diesen „Teufelshörnern“, während er im Matsch des Festivalgeländes beinahe zu versinken droht. Der Diplom-Betriebswirt war einer der 800, die 1990 das erste Wacken Open Air besuchten. „Das hat sich doch ganz schön entwickelt“, sagt er, und blickt übers riesige Areal. „Wenn ich nicht zufällig in der Gegend gearbeitet hätte, hätt ich damals gar nichts von dem Festival mitbekommen. Waren ja nur vier, fünf Bands aus der Umgebung, und die Gruppe vom Chef natürlich, Thomas Jensen. Die spielten Covers von Rock-Hits – aber gut waren die!“

Schlamm & Fun - was will man eigentlich mehr? Und nein, die junge Dame ist nicht den Temperaturen entsprechend gekleidet.

Wer heute mit Thomas Jensen, dem Mann hinter dem Festival, auf dem Gelände unterwegs ist, kommt nicht besonders schnell voran. Alle paar Meter sprechen ihn Besucher an, bedanken sich, gratulieren, wollen ein Selfie mit ihm. Sie kommen aus Deutschland, Österreich, Skandinavien, aus Kanada, Japan, Südamerika. „Planbar ist es nicht“, antwortet er auf meine Frage, wie sein Baby derart riesige Ausmaße annehmen konnte. „Wir waren damals selber jung und wollten was für die Jugend im Dorf machen. Ist ja sonst nicht sooo viel los hier. Solche Initiativen gibt’s tausendfach am Land in Deutschland und in Österreich wohl auch. Warum gerade wir so groß geworden sind? Irgendwas müssen wir wohl richtig gemacht haben. Vielleicht liegt’s ja an der Musik.“ Wenn Thomas Jensen grinst, verschwinden seine Augen unter dicken Falten. Aber man sieht dennoch, dass sie leuchten.

Und ja, die Musik, darum geht’s hier natürlich. Auch. Wobei Metal längst in der Gesellschaftsmitte angekommen ist. Seit Black Sabbath zum ersten Mal brave Bürger schockierten, sind 45 Jahre vergangen, da blickt man auf eine lange Tradition zurück. Jede Menge seit Jahrzehnten überlieferter Codes und eine sich kaum verändernde Tracht – wer hat eigentlich vor 25 Jahren die knielangen Cargo-Hosen eingeführt? – machen das Genre zu einem der wertkonservativsten im Musikbusiness. Brauchtumspflege, Baby! Was Wacken musikalisch für derartige Massen interessant macht, ist, dass jede Spielart bedient wird. Vom Classic-Rock bierbäuchiger Hobby-Indianer wie Uli Jon Roth (Scorpions), die ihr schütteres Haar im Wind der Ventilatoren frei wehen lassen, über unverwüstliche Mittelalter-Musik, Musikantenstadl-Metal mit Föhnwelle, bis zu dystopischen Fantasien von Jungs und Mädels, die aussehen wie aus dem Computerspiel „Fall Out“. Und lebenden Legenden wie Judas Priest. Alles da. Natürlich gibt’s auch richtig bösen Death-, Doom-, Grind- und Weißderkuckuck-Metal – während auf der Biergarten-Stage schon mal geschunkelt werden darf.

„Europe, yippie!“, sagen die hübschen Londoner Kolleginnen, die viel zu jung sind, um die Erbärmlichkeiten der Band in den 80ern mitbekommen zu haben. Sie düsen los, Renaud und ich folgen ihnen durch den Gatsch, Marco aus Mailand auch, langsam, weil zwei undefinierbare braune Klumpen sich genau da befinden, wo vor wenigen Stunden noch seine schicken italienischen Schuhe waren. Marco trägt’s mit unnachahmlicher Gelassenheit. Was genau die jungen Engländerinnen für Europe begeistert, ist schwer zu sagen. Ich vermute, sie finden gerade den abgeschmackten Poser-Rock und die theatralischen Gesten der braungebrannten Herren in ihren zweitbesten Jahren irgendwie witzig. Schließlich haben sie auch zu lässigen Acts abgerockt: Danko Jones, In Flames, Rob Zombie – und einigen der jungen Metal-Battle-Bands aus aller Welt, die schon am Nachmittag für wohltemperierten Lärm sorgen.

Aber: Alles nicht sooo wichtig. Der Vorverkauf fürs „Wacken Open Air 2016“ lief schon gut an, noch bevor eine einzige Band feststand, die nächstes Jahr auf der Bühne stehen wird. Denn was Wacken wirklich groß macht, ist das Gefühl, gemeinsam mit Tausenden anderen den Traum vom Frei- und Wildsein zu leben, den vor 47 Jahren Steppenwolf in unsere Köpfe gepflanzt haben. Fünf Tage „Heavy metal thunder ...“ für Manfred, der sonst mit Verkaufszahlen und Produktionsleistung jongliert, aber auch für alle Generationen nach ihm, wie Julian, den Informatik-Master in spe, oder die 20-jährige Einzelhandelskauffrau Mara aus Darmstadt, die mir im strömenden Regen erzählt, wie sehr sie sich darauf freut, später einmal mit den Kindern, die sie hoffentlich noch bekommen wird, hierher zu fahren.

Matsch und Wind und Regen nehmen im Verlauf des Festivals beinahe apokalyptische Ausmaße an. Mara sagt, am wichtigsten sei, dass man den Dreck draußen vor dem Zelt lässt. Die Gummistiefel und so. Dann geht’s schon, in einem guten Schlafsack. Trotz winterlicher acht Grad Celsius in der Nacht. Und wer’s wirklich nicht packt, der kriegt vom Nachbarn sicher eine Decke oder sowas. Das sei eigentlich auch das Schönste an der Sache. Dass alle zusammenhalten, wenn’s drauf ankommt. Ich sag ihr nicht, dass ich jede Nacht in ein geheiztes Hotelzimmer gefahren werde. Irgendwie ist mir das plötzlich peinlich.

Der Campingplatz in Wacken gleicht mit seinen gut 20.000 Zelten und den unzähligen bunten Fahnen und Wimpeln, die im Wind flattern und knattern, einem Heerlager aus „Game of Thrones“. Am dritten Tag lerne ich dort Andreas, einen Wikingerkönig aus Bayern kennen. Hey, warum denn eigentlich nicht? Wer sagt, dass Wikinger nicht auch aus Bayern kommen dürfen? Als die ersten Sonnenstrahlen seit Tagen die graue Wolkendecke durchdringen, schlägt er mich mit einer überraschend sanften Geste zum offiziellen „Ritter von Wacken“. Ich fühle mich geehrt.