Leben

Bühne in der Düne

Rantum ist außer Rand und Band. Ina Müller, die Rampensau, feiert heute 49. Geburtstag. 25. Juli 2014. Inas Open-Air-Konzert auf Sylt. Oben auf der Bühne gibt es reichlich Veuve Clicquot, aber auch unten bei uns tanzt der Bär. Die TV-Sendung „Inas Nacht“ hat die freche Jubilarin zur Kultmoderatorin, ihre Sprüche legendär gemacht: Lieber Orangenhaut als gar kein Profil – ihr erster Satz als Eisbrecher, auch heute Abend. Früher wollten alle Sex mit mir, jetzt wollen sie nur in meine Sendung, glaubt sie. Heuer gewinnt sie den „Echo“ in der Kategorie Rock/Pop und verkündet Damit ist der Pop eindeutig in die Wechseljahre gekommen. Ihre Lieder erzählen aus dem prallen Leben, manchmal wird die Schnodderschnauze melancholisch, sobald sie Den wilden Rausch hat der Alltag uns geklaut singt, spürt man kollektives Verständnis. Sylt sei ihr liebster Platz der Welt, meint sie, und die Sylter rund um sie freuen sich. In Westerland hatte sie früher in einer Apotheke und nachts als Aushilfskellnerin in der „Bambus Bar“ gearbeitet und mit wunderbaren Jungs tolle Zeiten erlebt.

In Westerland, dem einzigen hässlichen Ort der magischen Nordseeinsel, ist die Magie für jeden Touristen, der hier ankommt, schnell verflogen. Plattenbauten wie in der DDR, die nüchterne Fußgängerzone wie in Darmstadt oder Duisburg. Schnell weg von hier. Bürgermeister will hier auch niemand werden. Außer die bizarre, bayerische Lokalpolitikerin Ruth Pauli, um die es in letzter Zeit still geworden ist. Die rote Rebellin war vor Jahren am Sturz ihres Ministerpräsidenten Stoiber mitbeteiligt, jetzt will sie Sylter Strandkönigin werden. Sie benötigt 135 Unterschriften, um im Dezember bei der Wahl antreten zu können – die Insulaner sind aber skeptisch. Obwohl Paulis Idee einer „Zweitwohnungssteuer“ manchen plausibel erscheint. Immer mehr Sylter müssen die Nordseeinsel verlassen, weil ihre Heimat unbezahlbar geworden ist. Schulen, Kindergärten und die einzige Geburtsstation sind längst geschlossen. Im Winter bilden Reetdachhäuser und Wildrosenhecken eine menschenleere Kulisse. Im Sommer pendeln Kellner, Köche und die 55 Rettungsschwimmer täglich zeitig am Morgen vom Festland mit der Bahn über den „Hindenburg-Damm“ auf die Insel. Und spät nachts schlaftrunken zurück. Zustände wie in Venedig. Rund 300 Immobilienbüros kämpfen um betuchte Zweitwohnbesitzer aus Berlin, Hamburg und Moskau. Bis 30.000 Euro pro Quadratmeter kostet eine normale Doppelhaushälfte. Villen in Kampen oder Keitum kennen kein Limit. Innerhalb der letzten zwei Jahre stiegen die Preise um rund 20 Prozent: Der „Masurenhof“ wurde diesen Sommer verkauft, mit nettem Meerblick, aber keinem, bei dem man vor Glück ohnmächtig wird. Knapp 120 m² Wohnfläche. Kaufpreis: 21 Millionen Euro … von diesen Preisen können sogar die Kitzbüheler Immobilienhaie nur träumen. Viele dieser Häuser stehen dann meistens leer. Ein, zwei Wochen im Sommer, vielleicht ein paar Silvester-Halli-Galli-Tage, öfter kommen deren Besitzer nicht. Manche jahrelang nicht. Dann gilt es – um Einbrecher abzuhalten – in den verlassenen Villen vorgetäuschtes Leben zu organisieren. Das Basispaket für rund 1.000 Euro monatlich. Stimmen, Schatten, die Bewegung simulieren und Staubsauger-Brummen – alles vom USB-Stick vorgetäuscht. Fahrräder und leere Mülltonnen werden vom Personal hin- und hergeschoben. Die Hecken penibel geschnitten, der Rasen bewässert, Salon und Pool nachts beleuchtet.

Sylt ist längst nicht mehr nur Schicki-Micki-Promi-Party-Insel. Sylt ist auch Natur pur. Die dröhnende Brandung des Wattenmeers, graugrünes Gras, das mit dem Wind spielt, der unverbaute Horizont, ein 40 Kilometer langer Sandstrand mit seinen Wanderdünen – und die unvergleichliche Champagner-Luft, all das ist einzigartig. Mehr als 30 Prozent der UNESCO-Weltnaturerbe-Inselfläche ist Naturschutzgebiet, idealer Lebensraum auch für Kegelrobben, Seehunde und Schweinswale. Sylt hat schon immer Künstler angezogen – und zum Schwärmen gebracht. Thomas Mann verewigte sich im Gästebuch der legendären Künstlerpension „Kliffende“: Der Tiefgang des Lebens ist es, worauf es ankommt. An diesem erschütternden Meere habe ich tief gelebt. Morgens liebte er das Schreiben im Strandkorb, jenem eigentümlich bergenden Sitzhäuschen. Behütet vor Sonne und Flugsand, Wind und Menschen. 13.000 dieser Sylter Originale stehen auf der Insel – nur rund 7.000 weniger als gemeldete Einwohner. An Spitzentagen sind oft 150.000 Menschen gleichzeitig hier, trotzdem findet man an der Westküste noch immer Dünen, an denen man fast allein ist. Mit Romantik zum Nulltarif. Ausdruckstänzerin Gret Palucca tanzte hier in den 1920er-Jahren nackt. Das Touristenboot in List, mit dem man Richtung Sandbänke schippert, um (wenn Ebbe und Flut mitspielen) die Robben zu bewundern, ist nach ihr benannt. Wehmütig erzählt der Skipper zwischen nordischen Kalauern auch von der wunderbaren Künstlerin Palucca. Ganz blond vor Augen wurde es Robert Musil 1904. Jahrzehnte später auch einem anderen Sylt-Fan: Gunter Sachs. Er und seine Playboy-Freunde haben das verschlafene Dorf Kampen zum St. Tropez des Nordens gemacht. Adoriert von Mannequins (so hießen Models früher), höheren Töchtern aus reichen Familien und wohlhabenden Witwen mittleren Alters. Wilde Feste bei Vollmond und Champagner. Hummer-Rennen im Sand. Party rund um die Uhr. Barfuß dem Festland entfliehen. Übermut als Lebenselixier. Sündigen, ohne zu bereuen. Im „Pony“ an der Whiskymeile, „Ziegenstall“, „Go-Gärtchen“. Oder in der „Buhne 16“, dem berühmt-berüchtigten FKK-Klassiker. Oben trug man wegen der Kälte gerne Norwegerpulli, unten war man trotzdem en nature. Schließlich hatte Badearzt Dr. Jenner schon 1855 geraten, unter allen Umständen bade man ohne Kleider.

In der Sachs-Biografie „Mein Leben“ liest man: Bereits eine Stunde hier, entwickelte sich ein erster Inselflirt … mit einer verlockend schönen Eingeborenen … dann wird’s bei Herrn Sachs pathetisch … ich brauste manchem Sonnenaufgang entgegen, glücklich zu leben – und hätte gegens Sterben auch nicht viel gehabt. Schöner als im Glück zu sterben, ist nur im Glück zu leben … Poeten sahen Venedig und wollten sterben. Ich sah jenes Eiland im Norden – und wollte ewig leben. Die damalige Landebahn für Erosbummler hat auch Dreharbeiten für Softpornos wie „Heißer Sand auf Sylt“ mit Horst Tappert (ja, Tappert, der spätere Kommissar „Derrick“) oder „Sommer, Sylt und kesse Krabben“ mit Ingrid Steeger überlebt. Die Bardot war da, die Bismarcks, die Flicks. Die Prinzen Orsini und zu Schaumburg-Lippe, Curd Jürgens und die ewig traurige Ex-Kaiserin Soraya. Auch Romy Schneider besuchte einmal Sylt, war zu Gast in der Villa des Verlegers Axel Springer. Aber nur kurz. Romy war Sylt zu kalt, zu windig, zu nackt: In jeder Welle hängt ein nackter Arsch, klagte sie. Hermann von Wedderkopp schwärmte hingegen 1928 von den Menschen, die in herber Wollust das süßbittere Salz an sich nagen, sich vom Wind durchwehen und die Wellen auf sich niedergehen lassen. 1974 kommt in einem klapprigen, geliehenen Ford Capri der 22-jährige Kellner Herbert Seckler von der Schwäbischen Alp auf die Insel. Die Jodluft dringt in seine Lungen – und seine Seele. Hier will er bleiben. Eine „Tellerwäscher-Karriere“ à la Sylt beginnt: Der sparsame Schwabe betreibt vorerst einen Campingplatz-Pommes-Stand, bald kann er die winzige Bretterbude „Oase zur Sonne“ kaufen. Auf dem Dünenkamm im Niemandsland zwischen Hörnum und Rantum. Das kulinarische Angebot umfasst vorerst zehn Gerichte: Bockwurst mit Brot, Bockwurst mit Pommes, Bockwurst mit Brot und Pommes, Bockwurst … Heute, 40 Jahre später, ist die Bretterbude längst zur berühmten „Sansibar“ geworden. Ein Kult-Restaurant, das an eine Skihütte erinnert, mit Sand statt Schnee. Man isst wirklich gut, mehr als 1.400 (günstige) Weine lassen die Gäste schnell lustig werden: Lockere Sansi-Koexistenz der Reichen und weniger Reichen. Es gibt Erbseneintopf (göttlich, 8 €), Limburger Klosterschwein (22 €), aber auch „Imperial“-Kaviar (625 €). Auch heute sieht man auf Sylt Promis. Günther Jauch und Günter Netzer, Jogi Löw und Veronica Ferres. Allerdings selten in der „Sansibar“. Eher in der DrogerieRossmann“. Um Duschgel und Küchenrollen für ihr zurückgezogenes Leben in den gemieteten Häusern in den Dünen zu besorgen. Wegen der Promis kommt sowieso niemand mehr. Es ist das Lebensgefühl, das Sylt einzigartig macht. Sobald ich hier angekommen bin, spüre ich es. Mit unbeschwerten Glücksmomenten in stimulierender Luft. Im Strandkorb, in der Strandsauna in den Dünen – aber auch in der „Sansibar“. Bei ein, zwei Portionen Erbseneintopf.

ESSEN

SANSIBAR, Rantum

DAS Restaurant auf Sylt. Kult & Kaviar. People-Watching & Pellkartoffel. Wahnsinns- Weinangebot und erstaunlich günstige Preise. www.sansibar.de

JÖRG MÜLLER, Westerland

Müllers Kochkunst strahlt auch ohne Stern: Vor kurzem gab er seinen Michelin-Stern zurück. Hier gibt es die vielleicht beste Paella der Welt. www.jmsylt.de

KARSTEN WULFF, Keitum

Fisch pur. Liebevoll zubereitet. Tipp: Wulff unternimmt im Winter mit Gästen Exkursionen im Nordseekutter zu Fischmärkten in Dänemark. www.karsten-wulff.de

SCHLAFEN

Hotel BUDERSAND, Hörnum

Vom 20. bis 23. 11. LiteraturWochenende. Elke Heidenreich, die auch die Hotel-Bibliothek eingerichtet hat, präsentiert fünf Schriftsteller (u.a. Erika Pluhar). www.budersand.de

Hotel SÖL'RING HOF, Rantum

Ein Logenplatz direkt am Meer. Vor dem Frühstück in die Fluten. Johannes King kocht nicht nur Milchlamminnereien. Für Vegetarier auch Gemüsegerichte aus dem eigenen Garten. www.soelring-hof.de

Hotel HOFGALERIE, Morsum

Der absolute Geheimtipp. Entspannung pur. Ein idyllisches Privathotel mit Kunst, Wellness und freiem Blick in die Dünen. www.hotelhofgalerie.de