Leben

Serie, Teil 1: Genuss macht glücklich

In der ersten Hälfte unseres Lebens haben wir die Fähigkeit zu genießen, aber es mangelt an Gelegenheit. In der zweiten haben wir zwar die Gelegenheit, aber es fehlt die Fähigkeit“, schrieb schon der amerikanische Schriftsteller Mark Twain. Was der Schöpfer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn bereits vor mehr als hundert Jahren wusste: Genuss sorgt nicht nur für Wohlbefinden, sondern ist gesund. Und spätestens hier kommt die Glücksforschung ins Spiel – längst eine weltweit anerkannte Wissenschaft. Laut dieser sind gesunde Menschen zwar nicht glücklicher, aber glückliche Menschen gesünder. Denn das Leben genießen zu können, beugt psychosomatischen Beschwerden und Erkrankungen vor. Das Immunsystem wird angeregt, die Ausschüttung von Stresshormonen verringert,   der Immunglobin-A-Spiegel erhöht. Letzterer schützt  vor Viren, Bakterien und Krankheitserregern. Die Verhaltenstherapie setzt zudem Genusstraining unterstützend für Behandlung von Depressionen, Burnout, Essstörungen und Süchten ein. Psychologin Natalia Ölsböck: „Ist man nicht in der Lage, sich selbst zu spüren, wird sich das Leben irgendwann nur noch um unerfüllte Bedürfnisse drehen.“ Ein Nährboden für Erkrankungen aller Art. Dabei trägt jeder die Fähigkeit zu genießen in sich. Das Problem: „Viele nehmen sich keine Zeit für den Genuss oder verbieten ihn sich sogar“, sagt die Psychologin. „Wer aber seine Bedürfnisse vernachlässigt, verliert früher oder später den Kontakt zu sich selbst. Auch weil er verlernt, sein Sinne, unsere wichtigsten Genuss-Sensoren, zu benutzen.“

Wer wissen will, wie man am besten genießt, ist indes selbst gefordert. Die Grundregel lautet: Genießen heißt etwas zu finden, das einem Spaß macht und sich gut anfühlt. Usain Bolt etwa, der Jahrhundert-Sprinter aus Jamaika, genießt es Musik zu hören. Hat er Stress, legt er Reggae auf. Opernstar Plàcido Domingo dagegen setzt sich gerne in die Sonne. Und der griechische Mathematiker Archimedes nahm am liebsten ein Bad und kam so auf bahnbrechende Lösungen. Es sind eher die leisen, unscheinbaren Momente, die das Potenzial haben, einen Augenblick lang die Welt anzuhalten und Atem zu schöpfen. Das hat nichts mit Geld und Konsum zu tun, sondern mit dem Gefühl zufrieden zu sein, mit dem was ist – zumindest eine Zeit lang. Dieses Gefühl gewinnt an Intensität, wenn man dabei etwas schmeckt, riecht, berührt, hört oder sieht: den Fahrtwind beim Radfahren, den ersten Schluck Kaffee am Morgen, die Umarmung eines geliebten Menschen. Um zu genießen braucht es nicht den Traumurlaub, das Essen im Luxusrestaurant, die eigene Villa. Es geht nicht darum, sich Begehrlichkeiten einreden zu lassen, nicht um die Erwartungen der anderen. Genuss ist eine Frage der individuellen Bedürfnisse.

Psychologin Ölsböck: „Es ist wichtig, in sich hineinzuhören und seiner inneren Stimme, seinen Wünschen zu vertrauen. Wer das regelmäßig in einer stillen Minute macht, wird erfahren, was ihm gut tut.“ Der nächste Schritt ist, dem eigenen Gefühl zu folgen. Das sei gerade für jene Menschen schwierig, die sehr auf andere fixiert sind, Selbstzweifel haben, sich die Bestätigung vorwiegend von außen holen. Durch den Partner, die Karriere oder durch Statussymbole. Wer genießt, nimmt sich auch eher Zeit für kleine, spontane Erlebnisse. Das gibt Raum für die Regeneration der äußeren und inneren Sinne. Aber nicht nur am Feierabend oder im Urlaub. Sondern über den Tag verteilt. Natalia Ölsböck: „Je öfter wir uns gut fühlen, desto leichter tanken wir Energie. Dafür braucht es nicht viel. Man muss sich nur wieder bewusst machen, was einen zu sich selbst führt und die Bereitschaft haben, dieses Wissen immer wieder für sich abzurufen.“ Klingt einfach? „Ist es auch“, sagt die Psychologin. Und warum tun es dann nicht alle? „Viele haben das Gefühl, dass sie sich alles schwer erarbeiten müssen. Wir leben ja nicht gerade in einer genussfreundlichen Kultur. Was zählt, ist immer noch die Leistung“, so Natalia Ölsböck. So lange es uns gut dabei geht, ist das in Ordnung. Doch sobald die Belastung zu groß wird, wird es irgendwann nur noch darum gehen, Stress zu vermeiden. Abstand von den Problemen zu finden, wird dann besonders schwer, ist aber nicht aussichtslos. Vielleicht der Anstoß, sich zu besinnen, was einem als Kind Spaß gemacht hat? Fußball spielen, Eis essen, Huckleberry Finn lesen? Mark Twains Abenteuergeschichten können auf jeden Fall dabei helfen umzusetzen, was ihr Autor zeitlebens empfahl: „Reiß deine Gedanken von deinen Problemen fort, an den Ohren, an den Fersen oder wie immer: Das ist das Beste, was der Mensch für seine Gesundheit tun kann.“ Nächste Woche: So trainieren Sie Ihre Genussfähigkeit. Plus: Testen Sie, welcher Genusstyp Sie sind.

IRRTUM 1: Genuss macht dick, träge und faul.

Natalia Ölsböck: „Im Gegenteil. Genuss geht immer einher mit starken Gefühlen, die gerade auch bei intensiven Aktivitäten wie Joggen, Tanzen oder Radfahren entstehen können.“

IRRTUM 2: Genießen kann jeder.

„Leider nein. Die Genussfähigkeit kann einem abhanden kommen, etwa wenn man an Depressionen leidet, starke Schmerzen hat, über einen langen Zeitraum überfordert ist oder zu wenig auf sich achtet.“

IRRTUM 3: Genuss gehört nur in den Feierabend und ins Wochenende.

„Das ist falsch! Gerade in der Arbeit braucht es immer wieder Genussmomente, um genügend Energie für die Aufgaben zur Verfügung zu haben, die noch auf einen warten.“

IRRTUM 4: Genuss braucht andere Menschen.

„Stimmt so nicht. Natürlich kann man gemeinsam mit anderen genießen. Doch besonders wichtig ist es, Zeit, Raum und Ruhe für sich selbst zu haben.“

IRRTUM 5. Genuss erfordert viel Aufwand.

„Von wegen! Genuss braucht nur drei Dinge: 1. Bereitschaft zu genießen; 2. sich auf den Moment einzulassen; 3. Zeit.“

IRRTUM 6. Genuss wird überbewertet.

„Das ist nicht richtig. Je mehr wir genießen können, desto mehr steigern sich Wohlbehagen, Abwehrkräfte und Leistungsfähigkeit.“

IRRTUM 7. Wer Geld hat, kann auch leichter genießen.

„Stimmt auch nicht. Zu genießen heißt nicht zu konsumieren. Geldprobleme sind natürlich nicht förderlich für unser Wohlbefinden. Aber die meisten Genuss- momente sind gratis und das Wohlgefühl dazu kann man nicht kaufen, man muss es wahrnehmen.“

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