Boulevard der Träume
Von Eva Gogala
Wenn es wo etwas zu schauen gibt, sind die Wiener pünktlich zur Stelle. Das war schon immer so. Also versammelte sich am 29. März 1858 bei der Rothenthurmbastei eine beachtliche Menschenmenge – hoffnungsfroh und voller Neugier. Es war der Tag, an dem die ersten Steine aus der Befestigungsanlage herausgebrochen werden sollten, um Platz für den Prachtboulevard zu schaffen, den der Kaiser sich gewünscht hatte. „Es ist mein Wille.“ Mit diesen Worten hatte Franz Josef nur ein Jahr zuvor den Bau der Straße angeordnet.
Mit dieser Entscheidung sollte in der Reichs- Haupt- und Residenzstadt Wien kein Stein mehr auf dem anderen bleiben. Die Stadtmauer, im 13. Jahrhundert von den Babenbergern errichtet, fiel, die Wälle wurden geschliffen, die Gräben zugeschüttet. Das Glacis, eine riesige freie Fläche, wurde zur Verbauung freigegeben. Die Ringstraße entstand also quasi auf der grünen Wiese. Bis dahin war das Glacis grüne Lunge Wiens und als militärisches Sperrgebiet ein wichtiger Teil der Verteidigungsstrategie der Stadt gewesen. Es sicherte den freien Blick und ein unverbautes Schussfeld, für den Fall, dass Feinde heranrückten.
Das große Grün: Blick aufs Kartographische Institut, davor steht heute das Rathaus. Die Trasse der Ringstraße war bei der Parade zum 30. Geburtstag des Kaisers im Jahr 1860 bereits festgelegt, die Bauten fehlten noch.
Obwohl die Menschen innerhalb der Stadtmauern dicht gedrängt auf engstem Raum lebten und die Mieten stiegen und stiegen, waren nicht alle mit der geplanten Öffnung der Stadt einverstanden. Es gab nicht nur Ängste, den Angriffen von Feinden schutzlos ausgeliefert zu sein, auch das Proletariat, das sich draußen in den Vorstädten angesiedelt hatte, wurde als Bedrohung empfunden. Das ruft Erinnerungen an die Eröffnung der U-Bahn auf den Stephansplatz wach, als manch „nobler“ Innenstadtbewohner unkte, dass jetzt „die Proleten aus Favoriten“ die City erobern würden.
Wien wurde, all diesen Bedenken zum Trotz, zur Großbaustelle. Was gebaut werden sollte, hatte der Kaiser schon bestimmt: Ein Opernhaus, ein Reichsarchiv, eine Bibliothek, eine Stadt-Kommandatur, Museen und Galerien, Gartenanlagen und ein Gürtel um die Innere Stadt mit Fahr- und Reit- und Gehwegen. Neben den öffentlichen Gebäuden sollte es auch Wohn- und Mietshäuser geben. Die Hotels, die heute das Bild der Ringstraße prägen, waren damals nicht vorgesehen. Sie entstanden erst später, die meisten, um den Gästen der Weltausstellung 1873 Unterkunft zu bieten.
Um auch das Wie der Gestaltung zu klären, wurde der erste internationale städtebauliche Wettbewerb ausgeschrieben. 85 Planer nahmen teil – mit teils kuriosen Ideen. So sah ein Projekt vor, gleich die ganze Innenstadt mit Ausnahme des Stephansdoms niederzureißen und mit einem Straßenraster wie auf einem Schachbrett, neu zu bauen. Ein anderer Planer schlug vor, das Rathaus Am Hof zu errichten und die Staatsoper mit der Fassade auf die Kärntner Straße statt wie jetzt auf den Ring auszurichten. Schließlich siegten die Architekten Ludwig Förster, August Siccard von Siccardsburg und Eduard van der Nüll. Sie sollten eine der aufwendigsten Prunkstraßen der Welt gestalten. Der Unterschied zu den Prachtboulevards in anderen Metropolen wie Paris oder Barcelona stand von vornherein fest: Während anderswo schnürlgerade gebaut wurde, dreht sich in Wien die Straße im Kreis.
Die Grundstücke an der Ringstraße waren begehrt und rasch verkauft. Während der Hochadel schon längst über standesgemäße Unterkünfte im Herzen der Stadt verfügte, war es die sogenannte „zweite Gesellschaft“, die sich dort ansiedeln wollte: Geldadel, Industrielle, Bankiers, wohlhabendes Großbürgertum. Für die jüdischen Bürger bot sich erstmals die Gelegenheit, repräsentative Wohnungen zu bekommen – bis 1860 war es ihnen verboten gewesen, Immobilienbesitz zu erwerben. Die alte Elite traf die neue. Der Hochadel stellte nur knapp sieben Prozent der Ringstraßen-Bauherren. Ihre Palais standen meist zwischen Parkring und Schwarzenbergplatz: Abensperg-Traun, Colloredo-Mannsfeld und der Erzherzog von Württemberg, dessen Palais schon 1873 zum Hotel Imperial umgebaut wurde. Den Kärntner- und den Opernring wiederum dominierten die bürgerlichen Bauherren.
Der Bauboom sorgte für eine Zuwanderungswelle. Südlich von Wien, in den großen Ziegelwerken, waren es die Ziegelbehm, aus Böhmen und Mähren stammende Arbeiter, die dafür sorgten, dass das Baumaterial nicht ausging. Malterweibeln mischten den Mörtel und die Sandler streuten Sand in die Ziegelformen, um zu verhindern, dass der Lehm darin picken blieb. „Sandler“ waren also mitverantwortlich dafür, dass Wiens Prachtstraße entstehen konnte.
Es war die große Zeit der Architekten Theophil Hansen (Parlament, Palais Epstein), August Siccard von Siccardsburg und Eduard van der Nüll (Oper), Gottfried Semper und Karl von Hasenauer (Burgtheater), Heinrich von Ferstel (Universität), Friedrich Schmidt (Rathaus).
Sie bauten im Stil des „Historismus“: Das Parlament als griechischer Tempel, die Hofoper, die Universität, die Börse, die Museen im Stil der Neorenaissance, das Burgtheater neobarock, das Rathaus neugotisch. Das war nicht jedermanns Sache, wenngleich es den meisten gefiel. Robert Musil schreibt im „Mann ohne Eigenschaften“ von „Theaterdekoration einer gehaltlosen Zeit“, für den Architekten Adolf Loos war sie eine „Potemkin’sche Stadt“ und Berta Zuckerkandl nennt die Ringstraße „eine Musterkarte von Stilkopien, eine lächerlicher als die andere“. Sie veranstaltete ihren berühmten Salon übrigens eine Zeit lang im Palais Lieben-Auspitz, in einer Wohnung über dem heutigen Café Landtmann. Ein halbes Jahrhundert lang war Wien Großbaustelle. Zwar wurde die Ringstraße schon 1865 eröffnet, nur sieben Jahre nach Baubeginn, doch war zu diesem Zeitpunkt längst nicht alles fertig. Und manches, wie die Hofoper, die 1869 mit einer Aufführung von „Don Giovanni“ eröffnet wurde, galt zu diesem Zeitpunkt schon wieder als veraltet. Interessant auch: Die Bauarbeiten wurden penibel dokumentiert – mit eigens entwickelten Spezialkameras.
Den Wienern wurde der Prachtboulevard jedenfalls rasch zur willkommenen Bühne. Sehen und gesehen werden auf der Flaniermeile des Bürgertums. Der Korso zwischen der „Sirk-Ecke“ beim Hotel Bristol – berühmt aus Karl Kraus’ „Die letzten Tage der Menschheit“ bis zum Schwarzenbergplatz, war der Laufsteg der Reichen und Schönen. Oder bei einem der historischen Festzüge, die Maler und Dekorateur Hans Makart gestaltete: Etwa anlässlich der Silberhochzeit des Kaisers 1879, bei dem fast eine halbe Million Zuschauer die Parade der Festwagen bestaunte.
Auch zum Schicksalsort und zum Schauplatz der Politik wurde die Ringstraße immer wieder. Bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen nach dem Schattendorfer Urteil etwa, die 1934 in den Bürgerkrieg mündeten – zwei Menschen waren bei einer Versammlung der Sozialdemokraten im Burgenland erschossen worden, die Täter wurden freigesprochen. Oder bei der „Anschluss“-Kundgebung Adolf Hitlers am Heldenplatz am 15. März 1938. Und als Aufmarschzone der Sozialdemokraten am 1. Mai.
Manchmal hat sich auf dem Boulevard der Wiener auch gezeigt, dass das unmöglich Scheinende möglich wird: Als die vielbefahrene Hauptverkehrsader 1972 zur Einbahn erklärt wurde, beispielsweise. Oder seit einigen Jahren, wenn die Straße einen Tag für Autos gesperrt, mit Rollrasen belegt und zur riesigen Picknickzone wird.
Wien Museum
„Der Ring. Pionierjahre einer Prachtstraße 1857 bis 1864.“ Die Schau zeigt die Entstehung von der Planung bis zur Eröffnung (11. Juni - 4. Okt.)
www.wienmuseum.at
Österreichische Nationalbibliothek
„Wien wird Weltstadt. Die Ringstraße und ihre Zeit“. Künstler und andere Zeitzeugen dokumentieren den Wandel Wiens zum mondänen Zentrum einer europäischen Großmacht (22. Mai - 1.Nov.)
www.onb.ac.at
Wienbibliothek im Rathaus
„Vom Werden der Wiener Ringstraße. Visionen – Dokumente – Berichte“. Wie die Bevölkerung auf den Stadtumbau vorbereitet wurde (30. April - 13. Nov.)
www.wienbibliothek.at
Architekturzentrum Wien
„Wien, die Perle des Reiches. Planen für Hitler“. Die Pläne der Nazis zur Umgestaltung der Ringstraße und der ganzen Stadt (19. März - 17. August)
www.azw.at
Unteres Belvedere
„Klimt und die Ringstraße“. Ringstraßenmaler Hans Makart und der junge Gustav Klimt prägten ihre Zeit (3. Juli - 11. Oktober)
www.belvedere.at
Waschsalon im Karl-Marx-Hof
„Die Ringstraße des Proletariats. Ein Gegenentwurf“. Eine Schau über die Arbeiter, die den Baustoff für die prächtigen Ringstraßenbauten lieferten – die „Ziegelbehm“ (21. Mai - 20. Dezember)
www.dasrotewien-waschsalon.at
„Die Wiener Ringstraße Das Buch“, Monika Faber, Jochen Martz u. a., Hatje Cantz Verlag, 59,70 €
Nächste Woche in der freizeit: Das Leben in den Palais und Luxushotels