Leben

Seilers Gehen: Eine Tour durch den 9. Wiener Gemeindebezirk

Ich gehe durch den neunten Bezirk und sehe, weil ich gerade in Entdeckerlaune bin, merkwürdige, verschlossene Geschäftslokale. Die Rollläden sind seit Jahren heruntergelassen, ihre eingerosteten Strukturen von Sprayern und Taggern als Leinwand missbraucht. An einem Portal in der Porzellangasse hat der allgegenwärtige „King“ seinen schön geschwungenen Schriftzug hinterlassen, aber auch jemand namens „Omi“ hat sich verewigt – oder sollte es tatsächlich eine Omi gewesen sein? Wenn ja, bitte bei mir melden, Sie möchte ich kennenlernen!

Vor dem pittoresken Eingang zum Gasthaus „Rebhuhn“ bleibe ich stehen, weil mir die in die Fassade geschnitzten alten Zecher so gut gefallen, und drüben am Schlickplatz, vor der in Umbaugewänder gehüllten Rossauer Polizeikaserne, betrachte ich den Pavillon, in dem früher einmal die Trafik untergebracht war, wo sich jeder junge Mensch, der hier zur Fahrprüfung antrat, die Stempelmarken für die Führerscheinprüfung besorgen musste.

Auch hier ist der Rollladen unten, auch hier war „King“ tätig. Was allerdings die orangerote Botschaft „Minga Oida“ bedeutet, darüber rätsle ich noch heute. Eine verschwommene Erinnerung sagt mir, dass es irgendwo hier am Platz im Souterrain auch einmal einen Branntweiner gegeben hat, aber ich finde nur ein ziemlich riesiges Fitnessstudio. Tempora mutantur. Also spaziere ich hinüber Richtung Börse, gehe an einem Geschwader von Lieferando-Boten vorbei, die hier zusammengefunden haben, und überquere die Ringstraße, um ziellos an der Nordostflanke des Börseblocks weiterzugehen – und plötzlich erstaunt innezuhalten vor einer Fassade, die eine ganz besondere Geschichte erzählt: Am Börseplatz 3 hat sich nämlich ein AMZ-Testzentrum eingemietet, wo sich der verantwortungsbewusste Zeitgenosse auf Covid testen lassen kann.

Ich will gar nicht erst das Geschäftsmodell dieser Institution hinterfragen, wo man 99 Euro für einen PCR-Test und 35 Euro für einen Antigentest zahlen muss, während die identischen Leistungen überall in der Stadt gratis zu bekommen sind. Mich interessiert nur das Geschäftsportal im Bau von Theophil Hansen, das 1985 von den großen Coop Himmelb(l)au für ein Grafikbüro, das Atelier Baumann, umgebaut wurde: laut, fließend und dekonstruktivistisch.

Aus den hohen Fenstern strömt Metall. Stahlstangen markieren Unruhe. Das Atelier Baumann war eines der ersten Projekte, mit dem Wolf Prix und sein damaliger Partner Helmut Swiczinsky in Wien sichtbar wurden. Zu abgefahren war diese Architektur, die keinen rechten Winkel kannte und Regeln nur wahrnahm, um sie zu brechen. Inzwischen sind Coop Himmelb(l)au Weltstars. Sie haben riesige Projekte wie die Europäische Zentralbank in Frankfurt gebaut und sich neben Frank Gehry und Zaha Hadid als führende Meister neuer Formgebungen etabliert. Ich stehe hier vor ihren Anfängen, die verschandelt, unerklärt und vernachlässigt darauf warten, wiederentdeckt zu werden – und einer Bestimmung zugeführt, die ihrem Platz in Wiens Architekturgeschichte entspricht. Amen.

Gartenpalais Liechtenstein – Porzellangasse – Schlickgasse – Türkenstrasse – Schlickplatz – Börsegasse – Börseplatz: 1.800 Schritte

christian.seiler@kurier.at