Leben

Schwarzes Gold

Das Problem ist die Statik“, sagt Gerhard und tätschelt mit der flachen Hand die weißen LP-Regale in seinem Vorzimmer. Nein, er hat keine Angst, dass die zusammenkrachen. Er will sich nur nicht eines Tages samt seiner Sammlung in der Wohnung einen Stock tiefer wiederfinden. 8.000 Vinyl-Platten haben nun einmal ein ordentliches Gewicht, viel mehr können die Zwischendecken eines Wiener Altbaus nicht ertragen. „Nur“ 8.000 muss man in diesem Fall dennoch sagen. Die restlichen 7.000 hat er in der Wohnung seiner Mutter untergebracht. Gerhard hat seine erste Platte mit 14 gekauft. Elvis Presleys „Moody Blue“. Richtig zu sammeln begann er mit 17. Dieser Tage wird er Fünfzig. Da kommt schon einiges zusammen. Aber so viele? „Entweder man ist ein Sammler – oder eben nicht. Das ist mit LPs nicht anders als mit anderen Dingen“, sagt Gerhard. Wobei er als DJ – „Bunani“ ist sein nom de guerre, das „Soulsugar“ sein Lieblingsplayground – zwar prädestiniert für eine größere Anzahl an Tonträgern als ein Hobbyhörer ist. Insgesamt 15.000 Schallplatten braucht allerdings auch der angesagteste „Turntabler“ nicht wirklich. „Es ist eine Leidenschaft“, meint der Sammler, der sich mindestens 20 Stunden pro Woche ausschließlich mit Musik beschäftigt. Neben akribischer Internet-Recherche gehört dazu selbstverständlich auch das Stöbern in Plattengeschäften. Kein Urlaub, in dem nicht Zeit für einen Beutezug bleibt. Naheliegend bei Städtereisen in Metropolen wie London, Paris, New York oder Berlin. Aber auch dort, wo man normalerweise auf Energiesparmodus in der Hängematte Caipirinhas trinkt. „Man findet überall was Lohnendes. Man muss nur wissen, wo man suchen muss.“

Das geht in Wien übrigens auch sehr gut, wie der Experte bestätigt. Nicht nur, weil die Elektronik-Großhändler mittlerweile ihre LP-Sektion ausgebaut haben. Unbeirrt vom zwischenzeitigen CD-Boom gibt's einige Plattengeschäfte, die seit Jahren eine gute Auswahl an LPs anbieten (siehe unten: "VINYL HOT-SPOTS"). Kennt Gerhard eigentlich seine komplette Sammlung auswendig? Weiß er wirklich, was er alles hat? „Prinzipiell schon. Aber es passiert hin und wieder, dass ich beim Stöbern auf eine rare Scheibe stoße und mir denke ,endlich hab ich die auch!' - um zu Hause dann draufzukommen, ,Hoppla, über genau diese Platte hab ich mich wohl schon einmal gefreut'...“ Für „Hasi“ wäre das sowieso kein Problem. Der 41-jährige Frank-Zappa-Hardcore-Fan aus Niederösterreich hat sich zum Ziel gesetzt, alle, aber auch wirklich alle länderspezifischen Ausgaben von dessen Erstling, „Freak Out!“, zu besitzen – von Australien bis Zimbabwe. Wieviele noch fehlen? „Viele nicht.“ Aber selbst wenn diese ansehnliche Unter-Abteilung innerhalb der gut zehn Zappa-Regalmeter bald einmal komplettiert sein könnte, findet sich immer etwas neues Altes, das die Leidenschaft eines Sammlers weckt. Und dann ist auch ein Seitensprung voll okay. Die letztens erschienene, auf 15.000 Exemplare streng limitierte, 14 CD’s umfassende, sehr aufwendig gestaltete Box von Grateful Dead’s „May 1977“-Tour ist eben auf Vinyl nicht erhältlich. Einmal pro Woche schaut „Hasi“ zu „seinem“ Händler, dem „Rave up“ in Wien. Das geht ins Geld. Und natürlich stellt sich für ihn wie für jeden ernsthaften Sammler einmal die Frage, wie viel einem dieser Spaß wert sein soll. Auch platztechnisch. „Irgendwas geht immer noch“, sagt der Musikfreak, der neben Vinyl auch Konzertposter, Konzertkarten und alle anderen nur denkbaren Rock-Memorabilia zusammenträgt. Jedenfalls habe er nicht vor, je irgendein Stück seiner Sammlung zu verkaufen. Dabei könnte man angesichts mancher Beträge, die für Raritäten geboten werden, mitunter echt schwach werden. Mehrere Hundert Euro sind die Regel für wirklich seltene Exemplare, mehrere Tausend Euro für auch historisch wertvolle, weil signierte Stücke. Rekordhalter in dieser Kategorie ist ein ganz bestimmtes Album von John Lennon. Der Ex-Beatle mag mehrere Exemplare von „Double Fantasy“ signiert haben. Aber nur eines, das ihm zuvor sein späterer Mörder hingehalten hat. Genau jenes Album, dessen Cover Mark David Chapman nur fünf Stunden vor der Bluttat von Lennon persönlich hatte zeichnen lassen, wurde vor zwei Jahren bei einer Auktion in den USA für umgerechnet 420.000 Euro angeboten. Ob der Preis auch tatsächlich erzielt wurde, ist nicht bekannt.

► AUDIO CENTER 1010, Judenplatz 9, Latin, World, Blues, Folk und Elektronik www.audiocenter.at

RECORD SHACK 1050, Reinprechtsdorfer Str. 60, Soul, Northern Soul, Funk, Indie www.recordshack.org

► TONGUES 1070, Kirchengasse 27/III www.tongues.at Vinyl Only – Soul, House, Tech und Electronics.

► RAVE UP 1060, Hofmühlgasse 1 Indie, Underground, Rock, Soul und Funk www.rave-up.at

► TEUCHTLER 1060, Windmühlgasse 10 Familienbetrieb seit 60 Jahren, Second-Hand Fundgrube für Rares.

► SUBSTANCE 1070, Westbahnstr. 16a House, Electronics, Indie, Rock www.substance-store.com

► MARKET VINYL 1070, Zieglergasse 40 House, Soul, Disco www.dasmarket.at

MOSES RECORDS 1120, Längenfeldg. 3 Darauf spezialisiert, auf Nichts spezialisiert zu sein: Pop, Rock bis Wienerlied www.schallplattenshop.at

EMI Records 1010, Kärntner Straße 30, Von Mozart bis zu den Beatles, hier findet der Fan alles.

Im Bild: 8.000 LPs und eine „Schatzkiste“: Gerhard stöbert in der Kiste mit raren Singles

Wie auch immer, in einschlägigen Kreisen spricht man von Vinyl längst als „Schwarzes Gold“. Samir H. Köck, DJ, Plattensammler, Musikproduzent und -kritiker in einer Person, weiß von Schallplatten, die Mitte der 1980er-Jahre als Import um 15 US-Dollar zu haben waren und heute 3.000 US-Dollar wert sind. „Ein paar davon habe ich eh’ erwischt“, sagt er inmitten seiner Welt, die eher einem Musikgeschäft als einer Wohnung gleicht. Scheiben, wohin man auch blickt. Im Vorzimmer, im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, im Schlafzimmer, in der Küche. „Klo und Bad sind die einzigen Räume, die hier frei von Tonträgern sind“, sagt der Musikfan, der keine Zahlen zum Umfang seiner Sammlung geben mag. „Gezählt habe ich noch nie. Das ist ja kein Potenzersatz“, erklärt er, „sondern eine Form von symbolischer Welteroberung“. Als Kind aus der Wiener Großfeldsiedlung habe er sich eben per Musik in die Welt vorgetastet. Von den Beatles über den Glitter-Rock der Seventies arbeitete er sich zu allen nur denkbaren Spielarten des Jazz und der Weltmusik vor. Die stilistische Bandbreite lässt sich schon alleine an den Covern ablesen, die in dieser Wohnung sämtliche Wände schmücken. Und was für Cover! Fotorealistische, psychedelisch verfremdete, gemalte, rästelhaft gestaltete. Ein ansehnliches Sammelsurium, das Pop-Geschichte direkt zum Pop-Museum macht. Auch in eigener Sache: Samir Köck bestärkten die Erinnerungen an die Lieblingslieder seine Mutter – „Deutsche Schlager, gesungen mit Akzent“ – vor zwei Jahren zur Edition der Anthologie „Im Fieber der Nacht“ mit Perlen von Christian Anders bis Daliah Lavi. Zwar auf CD, aber bei diesem Sound können auch halb so alte Sammler mitreden. Die Mitzwanzigerin Rita etwa. Die junge Wienerin greift gerne zu Soul und Rap, hütet in ihrem Schatz aber auch alte Jugoton-Platten und – als an Erinnerung an ihre Mutter – Seventies-Folk von Schneewitchen. Überhaupt die Schätze von Sammlern. Sie weisen auf den scheinbar schon verloren gegangenen Kampf der Romantiker gegen die Verflüchtigung der Welt hin. Sie, die treuen Schallplattenspieler, halten mit ihren schwarzen Schätzen noch etwas in Händen, das im Zeitalter des iPod und der Musik-Streaming-Dienste wie Spotify oder Deezer immateriell und unsichtbar geworden ist.

Die Rückkehr zum Konkreten ist dabei kein Fantasieprodukt. Albumverkäufer erreichten in den USA im vergangenen Jahr rund 6,1 Millionen Stück, was einen Anstieg von 33 Prozent bedeutet. In Deutschland stiegen die Vinyl-Umsätze sogar um 47,2 Prozent, nachdem sie bereits im Jahr 2012 um 40 Prozent in die Höhe gegangen waren. Und Österreich ist nach etwas zögerlichem Beginn gerade auf der Überholspur (siehe „Zahlen, Daten, Fakten). Das vielleicht Erstaunlichste: Es sind keinesfalls nur alte Füchse, die an einem einst wichtigen Teil ihres Leben festhalten. „CDs sind einfach kein hippes Format mehr“, sagt Noel. Mit 21 gehört er zu einer ganzen Reihe jugendlicher Prinzen, die mithalfen, die LP aus ihrem Dornröschenschlaf zu küssen. „Natürlich, die MP3s im Netz kosten oft nichts – aber das find’ ich auch nicht gut. Was soll mir denn Musik bedeuten, die mir nichts wert ist?“ Neben dem moralischen Anspruch ist es auch bei ihm der überlegene Sound, der ihn auf die Schallplatte gebracht hat. „CDs liefern 20 bis 20.000 Hertz. LPS 20 bis 80.000. Den Unterschied kannst du nicht nur hören, sondern spüren“, erklärt er. Mit 17 hat er begonnen zu sammeln, seine allererste LP war Curtis Mayfields „Superfly“, CDs kommen ihm ebensowenig ins Haus wie Downloads aus dem Internet. Samir H. Köck sieht das mit den CDs lockerer. Auch die stapeln sich bei ihm zu Hause. Und Teile seiner LP-Sammlung betrachtet er mittlerweile ganz nüchtern als Altersvorsorge. „Platten bringen teilweise mehr als Aktien“, sagt er. Und stöhnt: „Falls nicht, bleibt mir mangels Aussichten auf eine hohe Pension nur eines: Helene Fischer heiraten.“

Die Zahlen sprechen für sich: Im Vorjahr sind in Österreich die Vinylumsätze um 25 % auf 2,5 Mio Euro gestiegen. Im ersten Halbjahr 2014 wurde dieser Satz noch einmal locker getoppt: 1,7 Mio Euro Umsatz bedeuten einen Anstieg um satte 50 %. Thomas Böhm vom „Verband der Österreichischen Musik- wirtschaft“ (ifpi) erklärt das so: „Seit einiger Zeit schon ist alles, was uns an Technologie im täglichen Leben umgibt, digital. Die LP stellt dazu einen absoluten Gegentrend dar: Groß, schön, man hat wirklich was in der Hand. Dazu kommt für audiophile Feinspitze natürlich die Tatsache, dass der Klang auch etwas ganz Besonderes ist.“ Eine Sonderstellung nimmt dabei die immer größer werdende Zahl junger LP- Fans ein, die statt nach Gratis-Soundfiles zu suchen, lieber für altmodisches Vinyl bezahlen: „Für die sogenannten Digital Natives, also diejenigen, die mit CDs, iPods und MP3 aufge- wachsen sind, stellt die LP ja etwas Neues dar, das hatten sie vorher nicht. Und für einige wird es eben ein richtiges Kult-Objekt.“ Vom endgültigen Aus für die CD will der Musikprofi allerdings nichts hören: „Bei aller Freude über den Höhenflug der LP – die CD ist schon weiterhin DAS Medium der Österreicher: 78 Mio Umsatz im Jahr 2013, da bleibt die Schallplatte doch klar zurück. Und falls sich die Zahlen eines Tages wirklich umdrehen – wer weiß, dann reden wir in 20 Jahren vielleicht vom Comeback der CD.“