Revolution in den Pop-Charts: Man spricht Deutsch
Von Andreas Bovelino
Was ist denn da los? In den heimischen Charts sind gerade mal fünf englischsprachige Songs. Der Rest: deutsch. Und bei unseren Lieblingsnachbarn ist die Sache gleich noch krasser, nur Superstar Billie Eilish und Tones and I schaffen es dort, die deutschsprachige Phalanx in den Top 20 zu durchbrechen.
Wie war das, die Radiosender hüben wie drüben behaupten, es gebe zu wenig Akzeptanz für Musik, die nicht auf Englisch gesungen wird? Hm. Das Argument scheint doch ein wenig wackelig dazustehen, sogar wenn wir Mundart-Stars wie Ina Regen oder Ernst Molden ausklammern, die, zumindest hier in Österreich, noch einmal in einer ganz eigenen Liga spielen. Gut, etwa ein Drittel der Tracks, die sich ganz vorne in den Charts platzieren, sind Gangsta-Rap, altmodisches „Boom bap“-Geklotze, quasi die volkstümliche Musik der harten Kids, Musikantenstadlmitklatsch-Teile für alle, die gern „Bruda“ sagen.
Aber man kann auch in diesem Genre zeitgemäßer zu Werke gehen. Das zeigt unseren deutschen Nachbarn mit Raf Camora übrigens ausgerechnet ein Österreicher. Und die faszinierende Schweizerin Loredana, die das auf allen Mädels-Kanälen zelebrierte „Bitch-tum“ auf ein richtig elegantes Level hebt. Das hat schon was, wenn sie in Ghetto-Hochdeutsch flötet: „Alle machen Auge, doch ich hab es mir verdient ...“
Dass weder die Gangster noch ihre Bräute im Radio gespielt werden, tut ihrem Erfolg keinen Abbruch. Eher im Gegenteil. Außerdem ist natürlich nicht alles mit einem Fuß im Kriminal, nur weil’s auf Deutsch gesungen wird. 35 Jahre nach Pionieren wie dem leider kürzlich verstorbenen Edo Zanki („Gib mir Musik“, 1977) oder Wolf Mahn („Deserteure“, 1982) ist die oft als nicht pop-kompatibel verschriene Sprache Goethes und Grillparzers tatsächlich in jedem Genre angekommen.
„Kommissar“ & „leider geil“
Eine Welle, die auch von der heimischen Band Bilderbuch mitgetragen wird, der es aufsehenerregend gelang, Rock mit Funk und Hip-Hop-Elementen zu verbinden. Und das noch dazu extralässig in einem smoothen, österreichisch-weichen Hochdeutsch, mit dem man einem seine Referenz erweist, der genau mit dieser Sprache in den 80ern die internationale Szene aufmischte: Falco. Dessen erster Hit „Ganz Wien“ wurde übrigens vom Radio auch boykottiert…
Bei unseren Nachbarn gab’s auch schon im alten Jahrtausend zwischen Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier immer wieder Erfolgsstorys, die breite Front von heute formierte sich allerdings erst im 21. Jahrhundert. Und wie! Nicht genug, dass sie regelmäßig in den Charts landen, schütteln die Hamburger Elektroniker von Deichkind die Schlagwörter des Jahres nur so aus dem Ärmel: „Bück dich hoch!“, „Leider geil“, „Like mich am Arsch!“
Und die Berliner Groovemonster Seeed führen das Vorurteil, Deutsche wären steif, ad absurdum. Mehr Swag als auf ihrer aktuellen CD „Bam Bam“ geht gar nicht. Apropos Swag: Die brave Lea („Zwischen meinen Zeilen“) singt mit dem schlimmen Capital Bra, während die böse Juju (SXTN) mit Lieblingsschwiegersohn Henning May (Annemaykantereit) ein richtiges Gänsehautlied zwitschert („Vermissen“). So kommen die Leut z’sam, wenn sie sich verstehen …
Österreich ist vorn dabei
Hierzulande macht Mathea allerfeinsten Pop, der sie auch in die deutschen Charts brachte, auf ihren Fersen sollte Keke mit ihrem trendigen Autotune-Rap bald durchstarten. Die Kremserin hat ihre Wurzeln eigentlich im Jazz, ihre Kollegin Yasmo lässt ebendiesen elegant zu Hip-Hop-Beats über die Bühne tanzen. Die Band Viech zeigt, dass Deutsch auch ausgezeichnet zur etwas härteren Gangart passt und rockt in herrlichster Garagen-Manier.
Frontman Paul Pluth vertont solo übrigens eindrucksvolle Mundart-Lyrik. Und in Graz bespielen Binder & Krieglstein den Dancefloor wahlweise in Mundart, Hochdeutsch oder Englisch. Die beiden Sängerinnen der Band, Nora Winkler und die erst 18-jährige Nana Nwosu, sollten wir übrigens im Auge behalten: Sie könnten die nächsten sein, die sich in den Charts platzieren. Die Gegenwart des Pop ist deutsch. Und die Zukunft auch.