Leben

Anfang der Endlichkeit

Ja, brav warn wir scho im Advent“, sagt der alte Mann und schmunzelt, als würde er sich eben an eine ganz bestimmte Szene aus der Kindheit erinnern. „Wir ham uns ja a vorm Krampus gfiacht – bis wir draufkommen sind, dass er eh net echt is’.“ Jetzt lacht er breit und heiser, seine Augen hinter den Brillengläsern funkeln. Am 30. Dezember wird Herr F. 96. Es wird sein erster Geburtstag im Caritas-Heim St. Barbara sein. Er denkt nicht gern daran. Nicht, weil er ihn im Pflegeheim verbringen wird. Sondern, weil er ihn zum ersten Mal allein verbringen muss. 66 Jahre lang war er verheiratet, die letzten beiden Jahre pflegte er seine kranke Frau daheim, in dem Haus in Inzersdorf, das sie gemeinsam gebaut hatten, ohne Hilfe, Stein für Stein.

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Herr F. kochte, putzte, wusch und kämmte, versuchte, sich um alles zu kümmern. Dann ging es nicht mehr. Im April übersiedelte er gemeinsam mit ihr ins Pflegeheim. Im Mai starb sie nach einem Herzanfall. Er sieht weg, wenn er von ihr spricht, seine Augen werden rot. „So is des Leben halt“, sagt er und zupft den Hemdkragen unter seinem blauen Trainingsanzug zurecht, „aber es gibt einfach so viele Dinge, die ich mir ohne sie gar net vorstellen kann.“Was ihm hilft: Hier in „St. Barbara“ ist er nicht allein. Weder in der Trauer, noch in den fröhlichen Momenten. Und auch die gibt es. Immer wieder. „Die Menschen, die zu uns kommen, bleiben bis zum Ende“, sagt Michaela, eine der Sozialbetreuerinnen des Heims, „aber diese Zeit gehört ja auch noch zum Leben. Und dazu gehört auch die Freude, der schöne Augenblick. Das sind dann meine schönsten Momente: Wenn ich sehe, wie unsere Bewohner von Herzen lachen.“ Herr F. hat das Lachen nicht verlernt, immer wieder blitzt es durch, egal, ob er von schwierigen Jahren erzählt oder fröhlichen, wie er sich als Halogenschweißer etwas aufbauen konnte, mit Frau und aufgeregtem kleinen Sohn die Stille des Advents im eigenen Haus genoss, oder die Zeit im Garten, als die Inzersdorfer Sommer endlos zu sein schienen. Jetzt ist der Sohn ebenfalls schon in Pension. Dafür hatte Herr F. vergangenen August seine erste Filmrolle. „Mit 95! Na ja, vielleicht werd i ja noch ein Star.“ In „Mythos Gerechtigkeit“ – „Is auf 3sat g’laufen, um neun Uhr abends“, sagt Herr F. – spielt er einen Mann, dem an der Bushaltestelle seine Armbanduhr gestohlen wird. „War scho aufregend. Und man sieht, wie viel Arbeit hinter so einem Film steckt. Zwei Stunden Drehzeit für zwei Minuten im Film.“

Verschafft hat ihm sein Film-Debüt eine Frau, über die niemand auf der Welt jemals etwas Negatives sagen sollte, wenn er es nicht mit Herrn F. zu tun bekommen will: Violetta, die Stationsleiterin. „Sie haben zwei, drei Szenen bei uns gedreht, im und vorm Haus“, erklärt sie. „Und ich weiß ja, welchen unserer Bewohner so etwas eine Freude macht – und auch zuzutrauen ist.“ Das „St. Barbara“ ist kein Pensionisten-Domizil, wer hierher kommt, der kommt allein nicht mehr zurecht. Demenz, Alzheimer, schwere körperliche Gebrechen sind an der Tagesordnung. Das Durchschnittsalter ist 90, die „Verweildauer“… endlich. „Vielleicht ja auch ein gutes Zeichen. Familiäre Strukturen sind noch vorhanden, das soziale Netz – Heimhilfe und -Betreuung, Essen auf Rädern und dergleichen – ist dicht wie sonst kaum wo. Deshalb kommen die Menschen sehr spät zu uns“, sagt Violetta. Die Diplompflegerin ist seit 22 Jahren im Haus, um 7.00 Uhr früh beginnt sie ihren Dienst, vor 17.00 Uhr geht sie kaum einmal nach Haus. Visiten, Beratung mit den Ärzten, Betreuungsgespräche mit den Angehörigen, Administration – der Tag ist übervoll. Und ein Kaffee mit Gästen wie Herrn F. muss sich auch noch ausgehen. „A tolle Frau“, sagt Herr F., „wenn sie jemals die Station wechselt, dann zieh i mit um.“ Mit 84 zählt Frau L. zu den jüngeren Bewohnerinnen des Heims. Aber als sie vor zwei Jahren kam, schien sie am Ende. „49 Kilo, ich konnt nicht mehr gehen, war halbtot. Die ham mein Leben gerettet“, sagt sie. Frau L. hatte versucht, ihren parkinsonkranken Mann alleine zu betreuen und war dabei weit über ihre körperlichen Grenzen gegangen. Im „St. Barbara“ ist sie gewissermaßen wieder aufgeblüht. „Es ist, als wär eine riesenschwere Last von meinen Schultern genommen worden“, sagt sie. Sie bewohnt ein Zimmer mit ihrem Mann, der betreut und überwacht wird, sie ist ihm nah – und hat doch auch Zeit für sich. „Ich hab sogar ein Platzerl im Garten bekommen, an dem ich Blumen anpflanzen darf“, sagt sie. Auch Frau L. hatte ein Haus mit Garten, früher, als die Sommer noch endlos waren. „Mei, im Sommer sollten S’ amal kommen, wenn meine Blumen blühen. Überhaupt der Garten, der is sehr schön hier, da wird dann auch oft gegrillt, richtig gemütlich is’ dann.“

In ihrem Rollstuhl sitzend, geht Frau B. an uns vorbei. „Na, haben S’ Besuch von einem jungen Mann?“, fragt sie. Danke für den jungen Mann, denke ich. „Ja, Frau B.“, sagt Frau L., „und wie geht’s Ihnen heut?“ – „Ja eh ... Weil Sie sich vielleicht wundern, warum bei mir immer so früh finster is: Da ham Männer reing’schaut, letztens bei mir.“ – „Na?! Aber Sie müssen sich ja net verstecken, Frau B.“ – Woher wissen S’ des? Wir warn ja no nie in der Sauna miteinand.“ – „Na, dann müssma einmal gehen.“ Die beiden lachen, und ich muss daran denken, was Schwester Michaela mir zuvor über schöne Momente gesagt hat. Barbarafest, Nikolaus, Weihnachtsfeier, Geburtstage, Konzerte, Heurigenbesuche und Landpartien – es gibt viel, was Frau L. und den anderen Bewohnern Freude macht. Wenn irgendwie möglich, dann sind auch die Gebrechlicheren, Desorientierten dabei. Die Fitteren helfen, sich um die weniger Fitten zu kümmern, fühlen sich gebraucht – und lernen auch von ihren Mitbewohnern.

Nach dem Mittagessen – „Ein großartiges Reisfleisch!“, sagt Herr F. enthusiastisch – wird mit Sozialbetreuerin Michaela eine Runde „Rätseln“ gespielt. „An welchem Fluss liegt Rom?“ – „Tiber.“ – „Wo steht der Kreml?“ – „Moskau!“ Nicht alle können mitmachen, aber gut zehn der 31 Stationsbewohner haben sich um den großen Tisch im Therapiebereich versammelt. Und geben richtig Gas. „Wer hat die Karlskirche gebaut?“ – „I weiß, der Fischer!“ – „Geh, i merk mir des einfach net, i bin so ein Kulturbanause.“ – „Macht ja nix, nächste Frage: Wer hat den Hochaltar in der Marienkirche in Krakau geschnitzt?“ – „Veit Stoß!!“ Frau K., die sonst oft schweigend in ihrem Rollstuhl thront, ist unschlagbar. „Was ist ein Campanile? Was ist ein Gobelin? In welcher Einheit wird der elektrische Widerstand angegeben? Wo steht der Popocatépetl?“ Vielleicht sollte man ja ein paar unserer Pisaschüler mit den Bewohnern von St. Barbara üben lassen. „Für viele Menschen, die zu uns kommen, ist es am Anfang nicht leicht“, sagt Michaela nachher zu mir. „Weil sie ja wissen, dass sie einen neuen, endgültigen Lebensabschnitt beginnen – und viel zurücklassen müssen. Aber was sie wissen, von dem ist noch so viel da. Und es hilft ihnen, wenn sie sich bei so kleinen Quizspielen daran erinnern.“ Besonders schwierig ist es für die neuen Bewohner, die ein Leben lang antrainierte Scham vor körperlichen Fehlleistungen oder Entblößung und Berührung abzulegen. Aber wer Hilfe braucht, muss lernen, sie anzunehmen. Die Pfleger machen bewusst kein Thema daraus, versuchen immer, die Intimsphäre der Bewohner zu wahren. Auch bei den intimsten Handlungen.

„’tschuldigen S’“, sagt Michaela zu mir und setzt sich auf die Couch zu einer alten Frau, die sich hilfesuchend umgeblickt hat. Sie hakt sich unter, streichelt ihr Knie. „Was ist denn?“, sagt sie. „Es muss sich was ändern.“ – „Was soll sich denn ändern?“ – „Ich hab heut Erbsen gegessen.“ – „Die sind gut.“ – „Ja.“ Eine kindlich wirkende Greisin fällt zart wie ein Herbstblatt, das vom Wind verweht wurde, an Michaelas anderer Seite auf den bestickten Stoffbezug der Couch. Einst konnte sie sieben Sprachen fließend, liebte die Literatur über alles. „Kraxi, kraxi“, sagt sie jetzt. „Sie sagt’s schon wieder“, flüstert die traurige Frau. „Ja, früher hat sie ,danke, danke’ g’sagt, das war schöner, gell?“ – „Ich hätt gern viel Geld auf einmal.“ – „Kraxi, kraxi.“ Die traurige Frau lacht wie ein junges Mädchen und drückt den Kopf an Michaelas Schulter. Ich weiß jetzt, was sie am Anfang des Tages gemeint hat. Und wie viel Geduld es braucht, um so ein Lachen zu ermöglichen.Es ist 17.00 Uhr. Stations-Chefin Violetta winkt ab. „Ich hab heut noch ein Meeting um 18 Uhr. Da bleib ich lieber gleich da.“ Ich gehe heim, es war ein langer Tag. Am Weg zum Ausgang treffe ich Frau P. in ihrem Rollstuhl. „Sie schreiben?“, fragt sie. „Ja“, sag ich. „Sie sollten schreiben, dass die Menschen, die hier arbeiten, großartige Menschen sind.“ Vor etwa 100 Jahren war Frau P.s Onkel Staatoperndirektor. „Was ich für Aufführungen gesehen hab! Das können Sie sich gar nicht vorstellen …“, sagt sie. Heute freut sie sich auch über die Konzerte im St. Barbara. „Die sind schön. Fast alle jedenfalls.“ Ihre Tochter ist Kunsthistorikerin und arbeitet in Schwerin. Sie kommt selten dazu, ihre Mutter zu besuchen. Aber der Advent wird sie heuer noch nach Wien bringen. „Das ist schön“, sag ich. „Ja“, sagt Frau P. Und lächelt.