Polen
Von Eva Gogala
Beim Anblick der rosig-gesunden Wäscherin Katharina Knack wird der schweigsame Holzfäller Joseph Waldemar Gritzan von der Liebe getroffen. Und zwar nicht von einem Pfeil, sondern gleich von einer ausgewachsenen Axt. Ohne ein Wort zu sagen, eilt er zum Pastor, um sich seinen Taufschein zu holen. Statt eines Heiratsantrags hält er seiner Angebeten das Papier unter die Nase. Der deutsche Dichter Siegfried Lenz hat seiner Heimat Masuren mit den Geschichten aus dem fiktiven Dörfchen Suleyken mit Figuren wie dem Holzfäller Gritzan, dem Großvater namens Hamilkar Schaß und anderen schelmisch-schwejkischen Figuren ein literarisches Denkmal gesetzt. Und der Schriftsteller Arno Surminski erzählt in seinem Buch „Reise nach Nikolaiken“ von Masuren als „Land ohne Eile, das gerne die Zeit verschläft“.
Dabei ist dieser nordöstlichste Teil Polens doch längst aufgewacht. Das, was den Landstrich, der einst Teil Ostpreußens war, so einzigartig macht, ist geblieben: Die 3.000 Seen, eine unberührte Naturlandschaft, die Rückzugsort für Riesenhirsche, mitunter sogar Elche, Wildschweine, Adler und Reiher ist. Sogar eine Rotte Wisente, die beinahe ausgestorbenen Verwandten der Bisons, die in den 1950ern ausgewildert wurden, lebt in den Wäldern nördlich des Hafenstädtchens Gizycko am Niegocin-See. Dass das üppig-grüne Masuren einst die unterentwickeltste Region Ostpreußens war, in der Armut herrschte, Hochwasser und Seuchen wüteten, lässt sich nicht mehr erahnen. Auch von der Ärmlichkeit des ehemaligen „Ostblocks“ ist heute nichts mehr zu spüren. Vor allem dort, wo sich das Leben am Wasser abspielt. Und Wasser ist in den Masuren fast überall.
Deshalb erkundet man diesen Teil Polens am besten mit dem Boot. Entweder, das ist die etwas sportlichere Variante, mit dem Segelboot. Oder, noch gemütlicher, per Hausboot und Fahrrad. Die Räder werden einfach auf dem Bootsdach montiert, und sobald man irgendwo anlegt, ist man mobil.
Das Boot tuckert von See zu See, denn die wurden im 19. Jahrhundert durch Kanäle verbunden. 170 Kilometer zusammenhängender Wasserwege sind so entstanden – von Wegorzewo im Norden über Gizycko und Mikolajki bis Ruciane-Nida im Süden. Obwohl die Kanäle unter zahlreichen Brücken durchführen, sind sie allesamt auch mit dem Segelboot zu passieren, da so gut wie jedes Schiff mit einer Mastlegevorrichtung ausgestattet ist.
Auch die zahlreichen Untiefen sind kein Problem, da die Boote, die hier unterwegs sind, allesamt sehr wenig Tiefgang haben. Die gelb-schwarzen Stangen, die auf flache Stellen hinweisen, sollte man allerdings schon beachten. Sonst kann es passieren, dass das Ruder steckenbleibt. Übernachten lässt es sich in einer der zahlreichen, gut ausgestatteten Marinas. Im lebhaft-lauten Mikolajki oder im ruhigen Ruciane-Nida. Noch schöner ist es allerdings, irgendwo am flachen Ufer im Schatten eines Baumes zu ankern.
Die ostpreußische Vergangenheit ist in Masuren allgegenwärtig, und das nicht nur, weil fast jeder dort zumindest ein paar Brocken Deutsch beherrscht.
Zum Beispiel in Sztynort, auf Deutsch Steinort. Gleich hinter dem Hafen am Mamry-See, liegt das Schloss der Grafen Lehndorff, überwuchert von Bäumen und Sträuchern, im Dornröschenschlaf. Heinrich Lehndorff, der letzte Schlossherr, beteiligte sich am Aufstand gegen Hitler und wurde nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 von den Nazis ermordet. Die Rote Armee besetzte das Schloss, später beherbergte es eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Mehrere Jahrzehnte lang war es dem Verfall preisgegeben, seit einigen Jahren bemüht sich eine polnisch-deutsche Stiftung mit privatem Spendengeld um die Rettung – in allerletzter Sekunde.
Auch die Cousine des Grafen Lehndorff ist in Masuren präsent: Marion Gräfin Dönhoff, die 2002 verstorbene Journalisten und Herausgeberin der ZEIT, die auf ihrem Pferd Alarich aus Ostpreußen flüchtete und darüber ein Buch schrieb. Heute sitzen ein Dutzend Menschen im Dönhoff-Salon des Alten Jagdhofes in Galkowo und lauschen andächtig der Stimme der „Gräfin“, die auf einer alten Aufnahme von ihrem abenteuerlichen Ritt und den Begegnungen mit Menschen der Masuren erzählt. Der frühere Banker Alexander Potocki ließ das romantische Jagdhaus samt Forstgehöft aus Steinort hierherversetzen und originalgetreu wieder aufbauen. Heute ist es ein kleines, feines Hotel mit Restaurant, Tennisplätzen und dem Gestüt Ferenstein. Es fügt sich perfekt in das Bild von Galkowo, das mit seinen Bauernhäuschen aus Holz eines der besterhaltenen Dörfer der Gegend ist.
Skurril und imposant ist der riesige Backsteinbau der Feste Boyen, die versteckt hinter Bäumen auf einem Hügel in Gizycko liegt. Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet, sollte sie die Ostgrenze des deutschen Reichs schützen. Tatsächlich diente der monströse Bau, den zu umrunden gut eine Stunde dauert, stets nur zur Abschreckung, bis er 1945 kampflos der Roten Armee zufiel, später wurde er als Hühnerfarm, zum Käsereifen und als Getreidespeicher zweckentfremdet. Heute ist die Feste öffentlich zugänglich, für Einheimische Besucher und Touristen werden dort Kriegsszenarien nachgestellt.
Nur ein paar Kilometer weiter schlängelt sich die Krutynia, ein langsam fließender Fluss, der als Masurens schönster Wasserlauf gilt, durch die Landschaft. Das Wasser ist seicht, meist nur hüfthoch und so klar, dass man bis auf den sandigen Grund sieht. Gelbe und weiße Seerosen blühen, Tausendblatt windet sich an der Oberfläche. Gut eine Woche lang kann man die 100 Flusskilometer ohne große Anstrengung in Etappen befahren, auf einem der vielen Campingplätze am Ufer oder in einer der Pensionen übernachten – alles ganz ruhig und still. Vorbei an schilfgesäumten Wiesen, durch menschenleere Naturschutzgebiete. An schönen Sommersonntagen allerdings scheint es, dass sich die Einwohner von ganz Masuren auf der Krutynia versammeln: Familienausflug. Tausende Paddelboote treiben in der sanften Strömung, so dicht an dicht, dass es praktisch unmöglich ist zu kentern. Nicht einmal dann, wenn sämtliche Bierdosen geleert und die Schnapsflaschen ausgiebig reihum gegangen sind. Am Montag wird es wieder ruhig werden am Fluss und mit ein wenig Glück sieht man einen Roten Milan oder einen Seeadler kreisen.
Nach so viel Natur ist Stadtleben ein guter Kontrast. Ein Stück Richtung Süden an der Weichsel in der Hansestadt Torun etwa. Der Heimatort des Astronomen Nikolaus Kopernikus ist wie durch ein Wunder von allen Folgen des Krieges verschont geblieben, in der von dicken Stadtmauern umgebenen Altstadt reiht sich ein mittelalterliches Kleinod ans andere, 350 sind es insgesamt, alle perfekt erhalten: Bürgerhäuser, Speicher, Tore und Türme. Seit 1997 zählt Torun zum UNESCO-Weltkulturerbe. Und obwohl die Stadt eine 800-jährige Geschichte hinter sich hat, pulsiert auf den Plätzen und in den vielen Lokalen das Leben – dank der Kopernikus-Universität und der vielen jungen Menschen, die hier leben.
Da ist von dem „Land, das die Zeit gern verschläft“ nichts mehr zu spüren.
BOOT CHARTERN
In jedem Hafen gibt es sowohl
Segel- als auch Hausboote zu
chartern. Das größte Angebot gibt
es in Mikolajki und Gizycko.
www.polen-hausboote.de
masurenrad.de
www.charter.czartery.eu
www.happycharter.com
www.primoris-travel.eu
KANUWANDERN
Kajaks und Kanus für einen oder mehrere Tage auf der Krutynia
gibt es in Krutin. Auch Ausrüstung und die Organisation von Rücktransporten werden angeboten.
www.as-tour.de
www.kajaki-mazury.pl
ESSEN
Schwimmendes Restaurant
Auf einem Floß im Szymon-See nahe Gizycko wird Aal frisch geräuchert. Fein auch die gebratenen Fische von Hecht bis Zander. Einfach mit dem Schiff anlegen und essen.
www.zeglarskasmazalnia.pl
Stary Mlyn
In der hundert Jahre alten Wassermühle außerhalb des Dorfes Upalty wird typisch masurische Kost serviert – von Pierogi mit Fleisch oder Hecht gefüllt, bis zu Kartoffelpuffern. Übernachtungsmöglichkeit.
www.karczma-upalty.com
SCHLAFEN
Alter Jagdhof, Galkowo
In dem idyllischen Jagdhaus mit Hotel, Tennisplätzen, Gestüt und dem Salon Marion Dönhoff lässt sich Geschichte nacherleben.
www.galkowo.pl
Hotel Spichrz,Torun
Ein ehemaliger schwedischer Warenspeicher in der
Mittelalterstadt Torun wurde zum Hotel mit
Blick auf die Weichsel.
www.spichrz.pl
NACHLESEN
„So zärtlich war Suleyken“, Siegfried Lenz: Erzählung aus einem fiktiven masurischen Dörfchen
„Ritt durch Masuren“, Marion Gräfin Dönhoff: Erinnerungen an eine Reise mit ihrer Cousine.
„Die masurische Eisenbahnreise und andere heitere Geschichten“, Arno Surminski: Masurische Menschen und ihre Marotten.