Unser Weihnachten
Von Bernhard Praschl
Für Nurcan ist Weihnachten seit jeher Höhepunkt des Jahres – und das wird immer so bleiben. Die resolute Frau aus der südtürkischen Provinz Hatay ist die gute Seele von Verkaufsstand 618 am Wiener Naschmarkt, auch bekannt als „La Bottega del Gusto“. Und sie gehört, wie ihr Ehemann, der syrisch-orthodoxen Kirche an, die in Österreich nicht viel mehr als drei- bis viertausend Mitglieder zählt. Nurcan und ihren Mann Nasir hat es vor Jahrzehnten nach Wien verschlagen. Rebekka, Jasmin und Andreas, ihre Kinder, sind hier geboren. Sie alle sprechen perfekt Deutsch und Wienerisch. Und sind zudem einer Sprache kundig, die manchen als schönste der Welt gilt: Aramäisch, die Sprache Jesu. Bei manchen mag es jetzt klingeln: Ja, das ist diese weiche, exotische Sprache, die Mel Gibsons Historiendrama „Die Passion Christi“ zum besonderen Film gemacht hat. „In Wien sind wir eine kleine Gemeinde, die sich zu Weihnachten in der St. Petrus und Paulus Pfarre in Floridsdorf zusammenfindet“, sagt Nurcan. „Vom Markt zur Mette“, ist dabei seit Jahren das Motto der syrisch-orthodoxen Christen, die auch am kommenden Mittwoch wieder bis zumindest 18 Uhr am Naschmarkt ausharren wollen. Um dann rasch nach Hause zu eilen und sich fürs Fest in der Pfarre umzuziehen. Rebekka, die älteste Tochter der Familie, hat sich heute extra für den freizeit-Fototermin am Naschmarkt eingefunden. Sonst arbeitet sie nämlich an einer anderen Wiener Top-Adresse, dem Hotel Kempinski im Palais Hansen am Schottenring. „Weihnachten ist für uns ein religiöses Fest, aber auch ein familiäres“, betont Nurcan, die froh ist, wenn sie alle ihre Kinder um sich weiß. „Das Schenken, die Bescherung, sind dabei aber nicht der Hauptzweck von Weihnachten“, fasst sie das Wichtigste an diesem kirchlichen Feiertag für ihre Religionsgemeinschaft zusammen. „Wir denken an Jesus und an die Botschaften und Aufgaben, die er uns hinterlassen hat.“ Nikolaus ist ein guter Mann.“
Davon ist auch die achtjährige Coco überzeugt. Besser gesagt: Sie übt diese Botschaft gerade auf dem Klavier. Cocos Mutter Christina Bibawy ist Leiterin der Fotogalerie Lomo Embassy Shop in der Kettenbrückengasse in Wien. Von ihren aus Ägypten stammenden Eltern wurde sie wie ihre beiden Schwestern im Glauben der koptischen Christen erzogen. „Bei uns ist Weihnachten ein Familienfest“, sagt sie. „Vor allem für die Kinder.“ Bei den Orthodoxen steht eigentlich der 6. Jänner im Mittelpunkt des Weihnachtsfests. „Aber“, bringt es Christina auf den Punkt, „wir gleichen uns da gerne an die Gepflogenheiten der anderen an.“ Wie überhaupt die Sache mit den verschiedenen Versionen der Konfessionen nicht ganz so eng gesehen wird. „Im Vorjahr haben wir etwa Pater Ivan Sokolowsky eingeladen, der uns von der Liturgie der Ostkirche erzählte.“ Anno 1054, vor fast tausend Jahren also, hatte sich das Christentum in die lateinische westliche und in die orthodoxe, die östliche Kirche gespalten. Längst ist das Klima nicht mehr so getrübt. Unter anderem auch, weil Patres wie der gebürtige Ukrainer eine „unierte“, also vereinigende Funktion ausüben. Raluca und Dominik haben weniger Historie im Hinterkopf, wenn sie an das Weihnachtsfest denken. Das rumänisch-polnische Paar kennt sich seit knapp mehr als einem Jahr. Vergangene Weihnachten verbrachten die beiden in Polen, heuer wird mit orthodox-katholischem Mix in Wien-Hietzing gefeiert. Die Verwandtschaft wächst schön langsam zusammen. Wobei nicht nur sprachliche Stolpersteine auf dem Weg liegen, sondern auch so manche lukullische Überraschung. Ralucas Augen weiten sich, denkt sie an das Herzstück polnischer Weihnachtsseligkeit, das traditionelle zwölfgängige Feiertagsmenü. „Letztes Jahr habe ich drei Tage allein an der Suppe gegessen“, macht sie gute Miene zum Marathon an der Tafel. Tja, die legendäre Fischsuppe, die muss man mögen. Heuer wird das erste Mal mit einem Hund, einer Yorkshireterrier-Dame, gefeiert. Und vielleicht mit einem Überraschungsgast. Jedenfalls pflegen Polen zu diesem Festtag den überaus sympathischen Brauch, stets einen Sessel für einen möglichen späten Besucher freizuhalten. Das erste Mal Weihnachten als Oma feiern. Auch das ist eine Überraschung der besonderen Art. Bei Doris und Belli aus Niederösterreich muss man schon zwei Mal hinschauen, um zu erkennen, wer hier Marvins Mutter ist. Das Baby kam vor knapp fünf Wochen auf die Welt. Und schon ist es der Mittelpunkt der Feiertage bei einer nunmehr Vier-Generationen-Familie. Opa Harald ist jetzt Ur-Opa! Ein Umstand, an den sich der Antiquitäten- und Oldtimer-Fan erst gewöhnen muss. Natürlich wird auch in Obersdorf-Wolkersdorf „Stille Nacht, heilige Nacht“ angestimmt. Aber da wir uns hier im Weinviertel befinden, geht es natürlich nicht, ohne zuvor die grimmige Version von „Jingle Bells“ aus dem Mund des Lokalmatadors Jimmy Schlager zu hören. „Tschingäl Bälls“ nennt sich das dann. Das hohe Fest wird in Niederösterreich so intensiv begangen, dass die dazugehörende CD, „Die Engel des Herrn“, längst ausverkauft ist und Nachschub erst für Weihnachten 2015 zu erwarten ist.
Schauplatzwechsel. Seit das Hotel Brillantengrund bei der Mariahilfer Straße einen zweiten Frühling erlebt, wissen auch Wiener, wie Weihnachten in Asien daherkommt. Ob grell oder bonbonfarben, Hauptsache bunt. Marvin und seine Mama kommen von den Philippinen, beleben das entzückende Hotel im Biedermeierstil mit Muttis in Bananenblatt gegartem Milchfisch, anderen exotischen Köstlichkeiten – und vor allem mit Lichtergirlanden im Party-Stil.
Wenn es ums Feiern geht, verhalten sich die Menschen auf den Philippinen bevorzugt eher laut und bunt. Diesbezüglich aber winkt Marvin für heuer ab. „Wir arbeiten sieben Tage in der Woche, daher machen wir diese Weihnachten rein gar nichts. Auf dem Sofa rumhängen – und aus.“ Eigentlich auch das perfekte Programm für Gerhard Polak. Aber er denkt schon einen Schritt weiter. „Das Schönste an der Weihnachtszeit ist“, brummt der Wiener, „wenn sie wieder vorbei ist.“ Seine Frau June ist da anderer Ansicht. Ihre Augen leuchten, wenn Sie an den Weihnachtsmann, äh, Santa Claus, denkt. Bei der gebürtigen Engländerin werden Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend bei Liverpool wach. Einen Kamin für Santa Claus gab es zwar damals auch nicht. Statt dessen die Aussicht, sich rund um die Feiertage in den Cavern Club zu einem Konzert von den Beatles, Gerry and the Pacemakers oder einem der anderen Stars des Mersey Sound zu drängen. Wie in England üblich, findet bei June und Gerhard die Bescherung nicht am 24., sondern am 25. Dezember statt. Ein Fest für Enkel Laurens und den Rest der Familie: „Bei uns liegen die Geschenke schon jetzt unter dem geschmückten Baum.“ In die erfreuliche Gunst, Weihnachten gleich zwei Mal zu feiern, kommt der aufgeweckte Harri Cherkoori mit Praline, seiner aus Frankreich stammenden aparten Frau. Gemeinsam führen sie die India-Boutique in der Wiener Innenstadt. Harri: „Wir feiern am 24. Dezember mit meinen Eltern in Wien und tags darauf mit Pralines Familie in Südfrankreich.“ Wobei feiern nicht wirklich in religiöser Hinsicht gemeint ist, der Glaube in Indien sei ja auch weniger Religion als Philosophie. Kostümdesignerin Praline freut sich jedenfalls schon auf Weihnachten 2015. Dann wird das Fest, buchstäblich dem Anlass entsprechend, endlich auch mit Nachwuchs begangen.
Die Geschichte des Weihnachtsfestes lässt sich nach aktuellem Stand der Forschung mehr als tausend Jahre zurückverfolgen. Als Familienfest mit dem Ritual des gegenseitigen Beschenkens wurde es ab 1535 von Martin Luther propagiert. Zu dieser Zeit fand die Kinderbescherung in katholischen Familien am 6. Dezember, dem Nikolaustag, statt. In Österreich sind derzeit über 5,3 Millionen Menschen katholisch, mehr als 300.000 sind evangelisch. Zu den Orthodoxen Kirchen zählen bei uns etwa 500.000, als Muslime bezeichnen sich knapp 600.000 Menschen.