Leben

"Ma muss net immer schiaßn"

Die Luft ist klar und kalt, leise rascheln die Blätter unter unseren Füßen. Um 5.30 Uhr ist der Wald finster und voller Geheimnisse. Nur zaghaft dringt die Dämmerung durch die dichten Reihen dunkler Fichten. Die Nebelbank liegt hinter uns, ein wolkenloser Himmel verspricht einen herrlichen Tag. Kaiserwetter. Wir bringen den Tod mit uns.

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Rosina geht voran. Den Rucksack scheint die schlanke Frau nicht zu spüren. Das Gewehr hat sie an einem Gurt über der Schulter. Mit sicherem Schritt steigt sie über heimtückische Wurzeln und abgebrochene Äste. Ihr Weg führt steil bergauf. Rosina geht leichtfüßig. Ich weniger. "Auf der Pirsch gehen wir hintereinander. So leise wie möglich", hat sie gesagt, bevor wir in den Wald eintauchten. "Wenn wir unbedingt sprechen müssen, dann flüstern wir."

Das Schweigen fällt mir nicht schwer, weil ich jeden Kubikzentimeter Luft zum Atmen brauche. Das, also das Atmen, hört sich nach 20 Minuten Aufstieg aber zumindest in meinen Ohren so laut an, dass man getrost auch mit dem Railjet durch den idyllischen Bergwald im gasteinerischen Angertal fahren könnte. Inklusive Sirene und 1.000-Watt-Durchsage: "Achtung Bambi, verlassen Sie sofort das Waldgebiet und bringen Sie sich hinter den sieben Bergen in Sicherheit!"

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Die Träger der Lodenhose, die mir die Jägerfamilie freundlicherweise geborgt hat, scheinen sich auf unerklärliche Weise verkürzt zu haben und ziehen meine Schultern mit tonnenschwerem Gewicht nach unten. Für meine behandschuhten Finger sind sie unter der dicken Lodenjacke und dem Wollpulli allerdings nicht zu erreichen. Ich drohe also tatsächlich unter der Last von Hosenträgern zusammenzubrechen. Und nein, als einziger unserer Gruppe trage ich keinen Rucksack. Rosina hebt die Hand. Endlich, stopp! Sie dreht sich um, legt den nackten Zeigefinger an die Lippen und deutet nach rechts. "Hast du das gehört?", fragt sie leise. Ja, tatsächlich, ein langgezogenes, hohes Geräusch. Ein Vogel vielleicht? Ein Pinguin? "Ein Rehkitz", flüstert Rosina. "Das kommt vom Tanzboden", meldet sich jetzt ihr Mann Thomas. Der Tanzboden ist einer von vielen Hochsitzen, die der riesige, bärtige Jäger in seinem Revier errichtet hat. "Vielleicht sehen wir es auf dem Weg, sonst warten wir dort. Los."
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Kurzer Rückblick. Bereits am Tag zuvor ist der Revierjäger mit mir durch einen Teil des 16 Quadratkilometer großen Gebiets gewandert. Ganz oben, praktisch auf der Rückseite der Schlossalm-Skiabfahrt, gehen die Gamsböcke gerade mit brutaler Entschlossenheit aufeinander los, während die Geißen wie schon seit Jahrtausenden geduldig wiederkäuend auf die Sieger warten. Nicht ganz so hoch, aber doch weit weg von jeder Unruhe, liegt die Futterstelle des Reviers. Um diese Jahreszeit finden sich die ersten Hirsche ein, um nachzusehen, was auf dem Speiseplan steht.

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"Ja servus Schmaler", begrüßt Thomas das erste Prachtexemplar, das vorsichtig näherkommt. Er kennt sie alle, hat ihnen Namen gegeben. Der "Klassenbeste" kommt vorbei, "Henry", dessen königliches Geweih sich doch nicht so entwickelt hat, wie alle geglaubt haben. "Rudolf", "Gabi" … Das Gewehr hat Thomas in der Hütte gelassen. "Ma muss net immer schiaßn", meint er. Außerdem sind wir ja in der "Ruhezone" des Reviers. "Da wird gechillt – und net g’jagt", erklärt er augenzwinkernd. "Im Ernst, wennst überall wild drauflos knallst, kriegen die Tiere viel z’viel Stress. Die brauchen Zeiten und Zonen, wo sie sich sicher fühlen können."
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Und so wird in einem großzügigen Teil seines Reviers, nämlich dem, in dem kein Nutzwald steht, konsequent nicht gejagt. Kommen die Tiere allerdings aus diesem "Leo", um die Spitzen frisch gepflanzter Fichten zu naschen oder an einer saftigen Jungbaumrinde zu knabbern, gibt’s kein Pardon. Außerdem sind da natürlich noch die behördlichen Abschusspläne, die genau festlegen, wie viele Tiere man schießen darf – und muss. Ein Jäger, der zu wenige Tiere erlegt, muss ebenso Strafe zahlen wie der, der einer kapitalen Versuchung mit zwölf Enden nicht widerstehen kann. In diesem Zusammenhang erscheint auch die oft mit städtischem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommene Leidenschaft der Waidmänner für Geweihe und Hörner in einem anderen Licht: Im Rahmen einer jährlichen "Trophäenschau" müssen sie die Beweise ihrer Abschüsse den Experten der Behörde vorlegen. Und wenn sie schon einmal so schön konserviert sind …

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So begrüßen mich, als wir am Vorabend in der Jagdhütte einkehren, die knöchernen Zeugen unzähliger Pirschen von den Wänden. In ihrer Mitte sitzend, gibt es herrliche Hirschsalami und Käse sowie regionalen Hollersaft, während der große Kachelofen die Stube gemütlich wärmt. Die Jäger-Familie, das sind Thomas, seine Frau Rosina, die er vor 25 Jahren bei einem Jagdausflug kennengelernt hat, und ihr 21-jähriger Sohn Thomas jr., Forstwirtschafts-Absolvent und ebenfalls Jäger.
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"Des war der Fritz", erklärt Thomas, als er meinen Blick auf ein besonders schönes Geweih mit eindrucksvollen "Eisenden", das sind zusätzliche Spieße im unteren Drittel, bemerkt. Wie kann man Tiere erschießen, deren Namen man kennt? "Schau her", sagt er und holt einen Ringordner heraus, der sich als eine Art Familienalbum entpuppt. Jeder Hirsch des Reviers ist darin beschrieben und mit Fotos dokumentiert. Ein Bestandsüberblick, den jeder Revierjäger führen sollte – aber natürlich nicht so aufwendig führen muss. Zu jedem kann Thomas eine Geschichte erzählen.

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"Das ist der Weini", sagt er und zeigt auf einen besonders mächtigen Kerl. Den hatte er schon einige Male im Visier, nur um den Abschuss dann doch um ein Jahr zu verschieben. Jetzt ist Weini biblische 18 – und verschwunden. "Vielleicht hat’s ihn bei den Brunftkämpfen erwischt", sagt Thomas. Er macht sich Sorgen. Jedes Jahr verenden Hirsche bei den Auseinandersetzungen, die viel brutaler ablaufen, als es uns Professor Grzimek damals im Fernsehen weismachen wollte.
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"Zupfi" und der schöne "Edel" starben nach einer dieser derben Wirtshausraufereien, die Eishirsche "Moritz" und "Sacki" werden wie Weini vermisst. Wie sieht Thomas eigentlich die aktuellen Skandale um Gatterjagden und pulverschwere Prestige-Veranstaltungen? "Es gibt 123.000 Jäger im Land. Da hast du einen ziemlichen Querschnitt durch die Gesellschaft. Es gibt, wie überall, halt solche und solche. Die meisten kenn ich nicht persönlich. Da will ich mir nicht anmaßen, über sie zu urteilen." Thomas ist ein Diplomat. Oder traut er sich nur nicht, über prominente schwarze Schafe zu reden? "Wir Jäger sind doch immer die Bösen. Alle essen ständig noch mehr Fleisch, aber der, der ein Tier schießt, das nicht im Stall ohne Sonnenlicht gehalten und unter Todesangst irgendwo hingekarrt worden ist – den mag man nicht. Der ist der schlimme Tierquäler. Ich kann nur sagen, wie ich persönlich damit umgehe: Mit dem, was wir tun, schaffen wir eine Endgültigkeit. Das muss einem klar sein. Wenn wir abdrücken, ist es irreversibel. Für mich ist das keine Entscheidung, die man nebenbei trifft. Oder nachdem man mit Freunden was getrunken hat. Weil keiner stirbt gern. Auch der Hirsch nicht ..."
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Die Nacht war kurz, der frühmorgendliche Aufstieg so beschwerlich wie beeindruckend. Inzwischen sitzen wir seit zwei Stunden auf dem "Tanzboden", einem Hochsitz, der ein atemberaubendes Panorama auf Gipfel und Gämsen bietet. Die dunklen Schatten haben sich tief in den Wald zurückgezogen, das Grau des Morgenhimmels wurde von einem satten Blau verdrängt. Während die Lichtung vor uns im Sonnenschein ein Technicolorbild abgibt, wie es nur 60er-Jahre-Filme und das Herbstlicht zu erschaffen vermögen, friere ich trotzdem wie ein Schneider.

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Aber plötzlich sind Kälte und Müdigkeit vergessen. Ein Kitz kommt aus dem Wald, hält die Nase zuckend in die Luft und springt weiter. Ein zweites folgt, dann das Mutter-Reh. Ich kenne die Checklist, die Thomas gerade im Kopf durchgeht:Entweder du erwischt alle Tiere einer Gruppe – oder du lässt es bleiben. Immer zuerst das Kitz, dann die Mutter – falls die entkommt, kann sie alleine überleben. Warte, bis die Tiere im rechten Winkel zu dir stehen – nur so kannst du sicher sein, sie mit dem ersten Schuss zu töten. Thomas hat das Gewehr minutenlang an der Wange. Die beiden Jungen springen hin und her, nur die Mutter frisst zufrieden und steht in idealer Position. Geduldig wartet der Jäger mit dem Finger am Abzug. Schließlich finden auch die beiden Kleinen Grasbüschel und Kräuter, die ihnen zusagen. Es ist ein Bild von beinahe unwirklicher Schönheit. Die Lichtung, die Sonne, drei feuchte schwarze Nasen, selbstvergessenes Grasen. Dann zwei Schüsse. Die beiden Kleinen fallen um, ohne auch nur einmal den Kopf zu heben. Bevor die Mutter, noch immer unbesorgt, sich umwendet, um nach ihnen zu sehen, fällt ein dritter Schuss…

Thomas geht nach unten zu den drei Rehen, die regungslos am Boden liegen. Er steckt jedem von ihnen einen frischen Fichtenzweig ins Maul. Die traditionelle Gabe der Jäger – eine Wegzehrung für die letzte Reise ihrer Beute. Dann tragen er, seine Frau und sein Sohn die Rehe ins Tal. Drei Tiere sind tot. Aber zumindest haben sie bis zuletzt gelebt.