Leben

Lust auf Genuss

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Vor einigen Jahren kam bei einem Interview mit einem erfolgreichen österreichischen Skirennläufer das Gespräch auf seine Essgewohnheiten. Irgendjemand hatte erzählt, er schwöre auf die Paleo-Diät: Fleisch, Fisch, Eier, Obst, Gemüse, Kräuter, aber keine Milchprodukte oder Getreidewaren. Auf Nachfrage bejahte er das, hätte seither auch mehr Energie, wolle aber nicht öffentlich darüber reden. Heute hätte der Sportler wohl kein Problem mehr, zu seiner Ernährungsweise zu stehen. Denn alternative Essgewohnheiten sind zum Trend – oder viel mehr – zum Ausdruck einer individualisierten Gesellschaft geworden: Sag mir, was du isst, und ich sag dir, wer du bist! Das 15 Euro teure Bio-Huhn als neues Statussymbol, die vegane Ernährung als Beleg, ein besserer Mensch zu sein und die Paleo-Diät als Ausdruck bewusster Lebensweise. Die Möglichkeiten, seine Ernährung zu gestalten, sind heute vielfältig wie nie zuvor. Doch diese Freiheit hat ihren Preis. Kaum jemand findet sich im Ernährungsdschungel noch zurecht. Die große Frage, die bleibt: Was ist eigentlich gut für mich? Auf Nahrungsmittel tierischen Ursprungs zu verzichten, wie es der deutsche Vegan-Papst Attila Hildmann propagiert? Oder doch lieber zuckerfrei zu leben, wie es der Wiener Arzt Christian Matthai getan und in einem Blog beschrieben hat? Seine Erkenntnis nach einem zuckerfreien Jahr: Sensibilisierung für das Thema und die Erkenntnis, bei der Auswahl der Lebensmittel wachsamer zu sein. Heute isst er in gewissen Kreisen wieder süß, um niemanden sauer zurückzulassen: „Bei Freunden oder bei Familienfeiern.“ Extremer Verzicht ist meist nicht gesellschaftstauglich.

Modern geworden ist auch die Reduktion von Kohlenhydraten. Low-Carb-Lokale werden gerade so hip, wie es vegetarische und vegane Restaurants schon sind. Vor kurzem hat in Wien auch das erste auf Low Carb spezialisierte Geschäft eröffnet – mit 300 Produkten im Sortiment, wie Testimonial Andre Agassi im Werbefilm erzählt. „Gesunde Lebensmittel ohne Zuckerzusatz und glutenfrei. Essen Sie gesund und fühlen Sie sich besser.“ Doch ist das wirklich so? Fühlt man sich besser, wenn man keinen Zucker, kein Fleisch, weniger Kohlenhydrate oder sonst wie reduziert isst? Der Kulturwissenschafter Wolfgang Reiter, der mit Ernährungsexpertin Hanni Rützler das Buch „Muss denn Essen Sünde sein?“ veröffentlicht hat, empfiehlt dringend einen „gelasseneren Umgang mit Essen“, auch wenn das ob des derzeitigen Hypes um die richtige Variante schwierig erscheint. Reiter: „Lebensmittel sind zum neuen Stilmittel geworden. Man braucht sich samstags Vormittag nur am Karmeliter- oder Yppenmarkt in Wien umzusehen. Die Foodie-Szene boomt, und jeder, der weiß, wo es das beste Biohuhn oder Gustostückerl vom Mangalitzaschwein gibt, ist, pointiert gesagt, der Star der Szene. Das Beschaffungs-Know-how der hochwertigsten Nahrungsmittel ist wichtiger geworden, als zu wissen, welcher Künstler in welcher Galerie der angesagteste ist.“ Das Bedürfnis, sich derart intensiv über die richtige Ernährungsform auszutauschen, ortet Reiter im Überangebot an Lebensmitteln: „In mageren Zeiten leistet sich kaum jemand den Luxus, viel über sein Essen nachzudenken. Man ist froh, überhaupt satt zu werden. Aber wir leben im Schlaraffenland und können uns fast alles kaufen. Da sind wir schnell überfordert, wenn wir im Supermarkt vor gefühlten 150 verschiedenen Fruchtjoghurts stehen.“ Die Folge davon: Der Mensch beschränkt sich selbst, indem er, seiner Einstellung oder dem Trend entsprechend, Lebensmittel weglässt und so das Überangebot für sich überschaubarer macht. Was wiederum die Gefahr beinhaltet, zu radikal zu sein und Familie und Freunde vor den Kopf zu stoßen. „Ich esse wenig und zu Hause ausschließlich Biofleisch“, erzählt Reiter. „Aber ich stimme keine Tirade gegen Tierfabriken an, wenn ich bei meiner Mutter oder Freunden zum Essen eingeladen bin und ein Brathuhn aus konventioneller Zucht auf den Teller kommt.“

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Sein Credo für mehr Gelassenheit in Ernährungsfragen unterstreicht Reiter auch mit dem Argument, dass es in den seltensten Fällen stichhaltige, gesundheitliche Argumente für Ernährungsweisen gibt, die auf bestimmte Lebensmittel radikal verzichten. „Unser Verdauungssystem ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und so komplex, dass sich selbst Ernährungswissenschaftler eingestehen müssen, nicht sagen zu können: „Dies oder das ist die einzig wahre Ernährungsform.“ Spätestens hier kommt die Eigenverantwortung ins Spiel. Man muss selbst wissen, was gut für einen ist – was einfacher klingt, als es ist. Denn Bauchgefühl alleine, nach dem Motto „Mein Körper sagt mir schon, was er braucht“, reicht nicht. „Das Bauchgefühl bedarf immer auch einer bewussten Reflexion. Das heißt, dass wir uns informieren und darauf aufbauend bei der Wahl unserer Lebensmittel immer wieder Entscheidungen treffen müssen“, so Reiter. Das ist der Fluch der Freiheit. Wir können nicht alles haben – Freiheit und jemanden, der uns die Entscheidungen abnimmt."

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Wolfgang Reiter Kulturwissenschaftler und Ess-Experte

1. Essen ist Reflexion. Die Annahme, dass einem der Körper ohnehin sagt, was er braucht, gilt nur für jene, die bewusst reflektieren. Sonst könnte man sich ungehindert Gelüsten und Heißhunger hingeben. Doch das bringt keine Befreiung von Essdiktaten. Nur zu essen, was einem schmeckt, birgt die Gefahr, sich einseitig zu ernähren.2. Geschmack kann man entwickeln. Die Prägung des Geschmacks beginnt im Mutterleib. Wie er sich entwickelt, hängt von den Lebensmitteln ab, mit denen wir im Lauf des Lebens in Berührung kommen. Erweitern lässt sich das Spektrum durch wiederholten Kontakt und positive Erfahrungen mit neuen Lebensmitteln und Geschmacksrichtungen.3. Geschmack ist mehr als süß ,salzig, sauer oder bitter. Es geht nicht nur um Aromen, sondern auch um Konsistenz, Temperatur und zeitliche Entwicklung von Geschmackswahrnehmungen im Mund. Wichtig ist auch, über die Eigenschaften von Produkten Bescheid zu wissen, um über Qualität entscheiden zu können.4. Sinne sind wie Muskeln. Sie lassen sich trainieren. Mit Kindern auf den Markt zu gehen und die Fülle der Formen und Farben von Obst und Gemüse zu erforschen, trainiert alle Sinne.5. Essen ist Genuss. Ein überzogenes Kontroll- und Gesundheitsverhalten ist immer auf Verzicht ausgerichtet. Loslassen-Können ist die wichtigste Voraussetzung für Genusserfahrungen.6. Genuss und Gesundheit schließen sich nicht aus. Nicht alles zu glauben, was als Ernährungsrisiken herumgeistert, ist ein guter Anfang. Sich dem Essen ohne Ablenkung in Ruhe zu widmen, eine perfekte Fortsetzung.7. Wissen ist Genuss. So wie der Reisende wissen muss, was er sehen will, um es nicht zu übersehen, muss der Genießer eine Vorahnung haben, was ihn beim Verkosten eines Essens erwartet. Das erfordert Sinneseindrücke, Geschmackserfahrungen, Lebensmittelkenntnisse.