Leben

Laufsteg der Gesellschaft

Jedes Mal, wenn Josef Bratfisch mit seiner Kutsche am Hintereingang des Grand Hotel vorfuhr, huschte eine junge Dame heraus, kletterte in den Wagen – und ließ sich zu einer Liebesstunde mit Kronprinz Rudolf bringen. Das Ringstraßenhotel spielte eine Hauptrolle in der verhängnisvollen Affäre zwischen Mary Vetsera und dem Kaisersohn. Hier stieg auch die „Anstifterin“ der Beziehung, Marie Gräfin Larisch, stets ab, wenn sie in Wien war.Sie war es, die ihre Freundin Marie Alexandrine Vetsera, genannt Mary und damals süße 17, im Jahr 1888 mit ihm bekannt gemacht hatte. Eine folgenschwere Liebschaft begann. Als Mary auch noch schwanger wurde, verlangte Franz Josef, dass sein Sohn die Beziehung beenden möge. Rudolf eilte ins Grand Hotel zu einer Aussprache – und nahm statt des Seiteneingangs irrtümlich den Weg durch die Schwemme, wo die Kutscher saßen, während sie auf eine Fuhre warteten. Gleich mehrere erkannten ihn. Die Affäre drohte öffentlich zu werden. Tags darauf fuhr Rudolf in sein Jagdschloss Mayerling und erschoss seine Geliebte, ehe er Selbstmord beging.
In den prächtigen Hotels an der Wiener Ringstraße wurde oft Geschichte geschrieben. Und manchmal wurden auch Geschichten gemacht.

Dabei waren Hotelbauten im ursprünglichen Ringstraßen-Konzept gar nicht vorgesehen und bei der Eröffnung 1865 gab es auch keine. Erst die Notwendigkeit, die vielen Besucher, die zur Weltausstellung 1873 erwartet wurden, unterzubringen, führte zu einem Hotelboom.
Der Weltausstellung verdankt Wien überhaupt einen Modernisierungsschub: Der Nordbahnhof wurde neu gebaut, das Eisenbahnnetz erweitert, auf dem Donaukanal verkehrten sechs Dampflinienbusse der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft, Kaiser Franz Josef eröffnete die Erste Wiener Hochquell-Wasserleitung beim Hochstrahlbrunnen am Schwarzenbergplatz und an der Ringstraße entstanden die ersten Hotels. Sie waren nicht nur elegant, sondern auch mit allen technischen Finessen ausgestattet, von denen man in normalen Haushalten nur träumen konnte. Elektrisches Licht sowieso, aber auch Bäder in den einzelnen Zimmern, Telefone und, wie beispielsweise im Grand Hotel, ein dampfbetriebener Aufzug. Mit dieser technischen Neuerung wurde übrigens die Hotelwelt auf den Kopf gestellt: Bis dahin war das schwer erreichbare oberste Stockwerk den Dienstboten vorbehalten gewesen. Seit es Aufzüge gab, war der oberste Stock bei den Herrschaften ebenso begehrt wie die Beletage.
Eines der bekanntesten Hotels ist das „Imperial“, wichtiger Eckpunkt des Luxusdreiecks mit Bristol und Grand Hotel. Dieses Gebäude ließ sich Prinz Philipp von Württemberg im Stil der italienischen Renaissance als Wohnsitz errichten. Gespart wurde an nichts, bis zu den Wappentieren der Württemberger an der Dachgalerie. Doch die Freude seiner bei den Wienern nicht sehr beliebten Durchlaucht währte nicht lange: Bereits knapp acht Jahre nach der Fertigstellung seines Palais suchte er den Absprung. Nicht nur wegen seiner Spielschulden, sondern weil ihm der zunächst freie Blick und Durchgang zur Karlskirche verbaut worden war. Seither logieren im Imperial Staatsgäste, gekrönte Häupter, Künstler. Queen Elizabeth II. mit Gemahl Prinz Philipp war da, Michael Jackson und der Schah von Persien. Und natürlich unzählige „namenlose“ Gäste, sofern sie über das nötige Kleingeld verfügten. Das Café wiederum war Treffpunkt für Dichter, Denker und Lebenskünstler. Franz Werfel, Anton Bruckner, Robert Musil und Leo Trotzki verkehrten hier.

- Karl Kraus, „Die letzten Tage der Menschheit“, Szene auf dem Ringstraßenkorso, Sirk-Ecke

Von den ursprünglich dokumentierten 27 Kaffeehäusern entlang der Ringstraße gibt es nur noch fünf – eines nach dem anderen sperrte im Lauf der Jahre zu: Zuletzt das Café Schottenring 2012. Heute existieren nur noch das Landtmann neben dem Burgtheater, das Schwarzenberg, das Imperial vis à vis, das Prückel am Luegerplatz. Das Café Ministerium am Stubenring ist ein Sonderfall: Es entstand erst 1935 in einer ehemaligen Eisenwarenhandlung.
Die Bewohner der Ringstraße machten ihre Palais zum gesellschaftlichen Mittelpunkt. Man wohnte mit ausreichend Platz und viel Luxus. Im Heinrichshof gegenüber der Oper etwa gab es 14-Zimmer-Haushalte, und Wohnungen mit mehr als 20 Räumern waren zu mieten. Um mehr Raum zu gewinnen, wurde ein Trick angewandt, der später in der ganzen Stadt kopiert wurde: Wegen der Beschränkung auf vier Stockwerke, zog man zwischen Erdgeschoß und erstem Stock ein „Mezzanin“ ein, das nicht mitgezählt wurde. Vorbild für viele Wiener Altbauten. Außer ausreichend Platz waren den Bewohnern der Ringstraße natürlich auch Prunk, Pracht und Repräsentation wichtig.
Der beste Platz war die „Beletage“ im ersten Stock mit Blick auf die Ringstraße. In den Palais herrschte „Geschlechtertrennung“, wie es die Aristokratie im Barock vorgelebt hatte: Der Hausherr und die Dame des Hauses hatten jeweils eigene Räumlichkeiten. Arbeitszimmer, Bibliothek und Billardzimmer für ihn, Damenzimmer und Boudoir für sie. Die Bubenzimmer befanden sich im Anschluss an die des Vaters, die der Mädchen hinter denen der Mutter. Im Zentrum des Palais befanden sich als Herzstück die Repräsentationsräume: Empfangssalon, Speisezimmer und Tanzsaal. 100 Quadratmeter konnte der schon groß sein, mit Säulen unterteilt. Hier wurden Bälle gefeiert, es wurde musiziert, Theater gespielt.

Jeder Quadratzentimeter wurde genutzt. Die Einrichtung war ein Mix aus vielen Stilen, wie die Ringstraße selber: Stuck- und schwere Holzdecken und -vertäfelungen, Gobelins und dicke Vorhänge. Gotik, Barock und Renaissance-Versatzstücke fanden sich da. Und auch die Liebe zum Orientalischen wurde ausgelebt – auf dem türkischen Diwan, einem Möbel, das der Entspannung diente. Wichtig war: Dekorativ musste alles sein und den Status des Bewohners dokumentieren. Es war die große Zeit des Malers und Dekorationskünstlers Hans Makart, der mit Pomp und Plüsch und Kronleuchtern den Zeitgeschmack der Ringstraßenepoche prägte. Die Wohnung als Bühne der Selbstdarstellung und der Eitelkeiten.
Ein wichtiger Teil des Lebens an der Ringstraße spielte sich auf dem Korso ab. Jenem Abschnitt, der von Oper bis zum Schwarzenbergplatz reichte. Er begann bei der Sirk-Ecke, benannt nach dem Lederwarengeschäft des August Sirk, führte vorbei am Hotel Bristol und am Grand Hotel und endete beim Café Schwarzenberg. Ein Laufsteg der neuen Hautevolee, der jedermann die Gelegenheit bot, zumindest einen Spaziergang lang an der Welt der Reichen und Schönen teilzuhaben.
Dass da mitunter auch Unschönes zutage kam, hat Karl Kraus in seiner Weltkriegs-Tragödie „Die letzten Tage der Menschheit“ festgehalten. Er ließ Hurra-Patrioten und Kriegshetzer, Nörgler und Optimist an der Sirk-Ecke auftreten und ihre Sprüche klopfen: „Serbien muss sterbien!“
Und mitunter konnte es in den großen Zeiten des Rings auch recht eng werden. Nicht anders als heute, wenn Autos, Busse, Straßenbahnen, Radler und Fußgänger einander den Platz streitig machen.

Buchtipp:

„Die Wiener Grand Hotels und ihre Gäste.
Die Menschen, die Geschichten“, Eva Gogala,
Metroverlag, 24,90 €

Ausstellungstipp:

„Die Ringstraße. Ein jüdischer Boulevard.“ 25. März bis
4. Oktober 2015. Jüdisches Museum Wien – Palais Eskeles, Dorotheergasse 11