König der Nacht
Von Andreas Bovelino
Wer lächelt und ruhig ist, bringt auch seine Mitmenschen dazu zu lächeln. Wer aggressiv ist, dem schlägt Aggression entgegen“, sagt Vikram. Er ist der König der Nacht in Währing, sein Reich ist die Shell-Tankstelle in der Gersthofer Straße. Seit acht Jahren arbeitet er hier abends von sechs bis sechs Uhr in der Früh, acht Stunden davon ist er allein, die Schicht seiner Kollegin Manuela endet um 22 Uhr. „Ich arbeite gerne nachts“, sagt er, „die meisten Menschen sind da ein bisschen entspannter, haben mehr Zeit.“
Was durchaus relativ ist, denn seit hier Supermarktwaren zu Supermarktpreisen verkauft werden, kommt Vikram bis Mitternacht kaum zu einer Verschnaufpause. Da ist der Jung-Architekt, der immer nur hier einkauft, abends, vom Spülmittel über Hartweizengrießspaghetti bis zum Duschgel. Verena und Aylin planen einen Fernsehabend und holen sich hier alles, was zwei junge Damen dafür so brauchen: Tomaten, Mozzarella, Knabberzeugs und eine Flasche trockenen Weißwein. Das tun auch die drei bebrillten, konsolenspielgestählten Helden, die eine kleine Call-of-Duty-Party planen – zwei Flaschen glasklares russisches Zielwasser müssen da schon drin sein. Dazu ein bisschen Sprudel und für die Gesundheit ein paar Bifi-Rolls. „Ich seh das nicht so gern“, sagt Vikram, „ich hab selbst zwei Kinder. Aber wenn sie über 16 sind…“ Seine zwei Söhne sind für den 39-jährigen Mann aus Neu Delhi das Um und Auf – und ein weiterer Grund, warum er seit acht Jahren den Nachtdienst an der Tankstelle macht. Vikrams Frau, eine russische Englischlehrerin, kommt selten vor 17 Uhr nach Hause. „Und so kann ich die beiden vom Kindergarten und dem Hort abholen“, sagt er. Und lächelt.
Erkan, der so breitbeinig geht, als hätte er nicht seinen BMW, sondern ein Quarterhorse draußen vor dem Eingang abgestellt, braucht nur schnell eine Dose Red Bull. „Hey, wie geht’s, Alter?“ – „Gut, und dir?“ – „Alles cool, Alter.“ Als er an der automatischen Schiebetür ist, dreht er sich nochmal um, wie es sonst nur John Wayne vor den Schwingtüren eines Saloons zusammenbringen würde, und zielt mit dem Zeigefinger auf mich. „Vikram ist der Beste. Schreib das, Alter!“ Vikram lächelt. „Er ist ein guter Mann“, sagt er, „ich kenne ihn aus dem Fitnessstudio.“ Viel Zeit für Hobbys hat er nicht. Will er auch gar nicht. Da sind die Frau und die Kinder – und? „Ich koche gerne“, sagt er und strahlt. Bleibt als außerhäusliche Aktivität das Fitnessstudio. Das man ihm aber keinesfalls so ansieht wie dem Mann, dessen Bizeps sein Bowling-Green-University-Sweat-Shirt zu sprengen droht, als er sein Sixpack Bier an die Kassa stellt. Amerikaner? Footballspieler? „Nein“, sagt Vikram, „Kellner. Aus Afrika, Ghana, glaub ich. Er ist sehr cool.“ Kommt die ganze Welt zum Einkaufen nach Gersthof? Vikram denkt kurz nach. „Menschen aus aller Welt, ja. Und ich lerne sie ein bisschen kennen. Vielleicht ist ja das mein Hobby.“ Wenn, dann ist es eines, das er mit Begeisterung pflegt. Fast jeder kennt Vikram, Vikram kennt fast jeden, viele Kunden werden mit Handschlag begrüßt, ein kurzes Gespräch über Familie, Beruf, Kinder inklusive. Ein wenig kommt man sich hier mitten in der Nacht vor wie früher am Vormittag beim guten alten Greißler.
Die drei US-College-Basketballerinnen mit erstaunlichem Gardemaß, die gegen 23 Uhr hereinschneien, kennt Vikram dagegen sicher nicht, das kann man an seinem verblüfften Gesichtsausdruck erkennen. Die drei beratschlagen eine Weile, was sie für ihre House-Party brauchen, einigen sich schließlich auf drei Flaschen Bellini, Wodka, Prosecco und genügend Chardonnay, um keine Langeweile unterm Korb aufkommen zu lassen. Vikram blickt fassungslos nach oben in die Gesichter der drei, als er ihre Beute einscannt. „Just a little party, you know?“, sagen sie und grinsen. „I see“, sagt Vikram und lächelt. Der Alarm des Semmelbackofens reißt alle Anwesenden aus ihrer Trance. Vikram spurtet nach hinten, um das Gebäck aus der Gefahrenzone zu bringen. „Bedienen S’ zuerst weiter, bevor S’ mit Ihre Semmeln herumtun. Sehen S’ net, wie viele Leut warten“, kommt es von einer verkniffenen Nickelbrille mit Stoppelglatze und Schal am hinteren Ende der Schlange. Vikram dreht sich um, lächelt kurz, und holt die Semmeln aus dem heißen Ofen. „Soll er wegen Ihna warten, bis die Semmeln schwarz werden?“, fragt eine ältere Dame und fügt kopfschüttelnd hinzu: „Sie ham a no net oft was im Ofen g’habt…“ Die Nickelbrille kriegt rote Ohren und hält den Mund. Was eine Dame wie sie um diese Zeit in der Tankstelle macht? „Schauen S’, die Nächte sind so lang, seit mein Mann tot ist“, sagt sie zu mir, „da bin ich froh, wenn ich rauskann, unter Leute.“
Erst 15 Minuten nach der Geisterstunde wird’s ein wenig ruhiger. Vikram erzählt mir, wie er als junger Mann nach Italien ist, um Betriebswirtschaft zu studieren. Dann, mit 24, wechselte er an die Uni Wien. Verschiedene Jobs verzögerten den Studienerfolg, dann lernte er in einem Bulgarien-Urlaub seine jetzige Frau kennen, sie heirateten, sein ältester Sohn ist neun, das Studium rückte in weite Ferne. Was will er von der Zukunft – hat er Träume? „Träume?“, wiederholt Vikram und schaut mich verständnislos an. Und nach einer kurzen Pause: „Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist. Und dass meine Kinder es auch einmal gut haben.“
Die Verschnaufpause ist kurz, bald kommen die ersten Heimkehrer von der Partyfront, müde Helden, von ihren Abenteuern schon ein wenig gezeichnet, denen wie Odysseus der direkte Weg nach Hause zu banal ist. Manche brauchen nur eine schnelle Wegzehrung, Leberkässemmeln, Specksandwiches, manche haben noch Größeres vor und rüsten sich mit den Vorräten der Wein- und Bierabteilung aus. Würdevoll stehen sie vor den Regalen und der Kassa, leicht schwankend, vom Ballen zur Ferse und wieder zurück, im Bewusstsein der Schwere ihrer Aufgabe. Sie vermischen sich still mit den Menschen, die auch jetzt noch ganz alltägliche Einkäufe durchführen, als hätte sie das plötzliche Bewusstsein zu wenig Katzenfutter zu Hause zu haben, direkt aus dem Bett geholt. Oder zu wenig Klopapier. Oder kein Nutella fürs Frühstück.
Eine ausgesprochen hübsche junge Frau mit Brille und einem Freund, der still vor sich hin grinst, kauft eine große Packung Frozen Yoghurt und einen Damenrasierer mit Vitamin E, Aloe Vera und Anti-Rutsch-Sicherheitsgriff. Sie trägt einen Pyjama unter ihrer offenen Daunenjacke. „Hab ich mich getäuscht oder hatte sie nur einen Pyjama an?“, frage ich Vikram, als sie draußen ist. „Nein, Sie haben sich nicht getäuscht. Sie hatte einen Pyjama an“, sagt er mit gebührender Ernsthaftigkeit. „Ich frag mich, warum eine Frau mitten in der Nacht extra aufsteht, um sich ein Frozen Yoghurt und einen Rasierer zu kaufen“, sag ich. „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen – da müssen Sie sich selber etwas überlegen“, sagt Vikram. Und das hab ich, mein Freund, das hab ich …
Ab halb drei fängt Vikram wieder an, frische Semmeln zu machen, quasi fürs Frühstück. Taxifahrer kommen auf einen Kaffee, die „Normal“-Einkäufer schlafen inzwischen wohl – fast alle zumindest –, die Party-Helden werden immer müder. Ab drei kommen die Zeitungsausträger, viel mehr als einen Budget-Energydrink oder ein Mineralwasser können sie sich nicht leisten, in der Tiefgarage gegenüber sammeln sie sich mit ihren Fahrrädern. Eine Schatten-Kavallerie, die sich bereitmacht, über die noch nachtschwarze Stadt auszuschwärmen. Anonym, unerkannt – nur hier bekommen sie ein Gesicht. „Wie geht’s Bruder?“ – „Willst du einen Kaffee?“ – „Keine Zeit, muss weiter. Es ist kalt geworden.“ Mit manchen kann Vikram Hindi sprechen, er sieht mich dabei fast entschuldigend an, wenn ich daneben stehe.
Normalerweise kommen jetzt auch die beruflichen Frühaufsteher, doch heute ist Samstag, da tut sich nicht so viel. Dafür tröpfelt noch immer Partyvolk herein, gut gelaunt, wenn sie in Gruppen mit weiblicher Beteiligung sind, still und grau wie Wölfe die Jungs. Vikram backt Croissants und Kipferln und Topfengolatschen, Franz, ein in die Jahre gekommener Musiker, braucht um fünf Uhr früh unbedingt Sicherungen für sein Auto. Ein älterer Herr im Anzug, der genau so aussieht, wie man sich einen Hofrat vorstellt, kauft zwei Kipferln. „Wie geht’s Ihnen?“, fragt er Vikram, und im Gehen, fast schon bei der Tür: „Und der werten Gattin?“ Vikram lächelt ihm nach, die Antwort hätte der Hofrat ohnehin nicht mehr gehört. „Auch ein Stammgast“, sagt er, „ein sehr netter Herr.“
Um sechs Uhr früh kommt Özkan, um Vikram abzulösen. Die beiden übergeben die Kassa, kontrollieren die Stände und trinken einen Kaffe miteinander. Ich bin todmüde, mein Körper tut mir weh, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal zwölf Stunden durchgehend gestanden bin. Ich verabschiede mich von den beiden und mache mich auf den Heimweg. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, noch immer oder schon wieder strömen Menschen auf das Licht der Tankstelle zu. Leise summe ich einen Song vor mich hin, der mir plötzlich einfällt: „There’s a light, light, in the darkness of everybody’s life.“