Leben

Versuchsstation des Weltuntergangs

Sylvester mit Dir in Venedig ist ja viel wichtiger als der Weltkrieg …“ schreibt der oft gnadenlose Satiriker Karl Kraus am 1. Dezember 1914 an Sidonie von Nádherný. Die böhmische Aristokratin – jene große unerfüllte Liebe seines Lebens – vollführt mit Kraus mehr als 20 Jahre ein kokettes Spiel. Ein sexuell unausgeglichener Mann am Gängelband der Gefühle. Der leidenschaftliche Kämpfer gegen Krieg und Korruption befindet sich im ersten Kriegsjahr in einem seelischen Zwiespalt, eine Krise jagt die andere. Karl Kraus wird zum Sklaven seiner Passion und muss immer mehr Kränkungen der herrischen Sidonie erdulden. Er erkennt bald „In der Liebe kommt es nur darauf an, dass man nicht dümmer erscheint, als man gemacht wird“. Wenn er wieder einmal längere Zeit keine Post von „Sidi“, der unnahbaren Geliebten, erhält, verzweifelt er vor „Liebestodesangst“, jammert pathetisch: „Ich weiß jetzt, wie einem zum Tode Verurteilten ist. In meinem Zimmer waren gestern hundert Galgen“. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schweigt Karl Kraus zunächst. Vor Beginn des Krieges setzt er große Hoffnungen auf Franz Ferdinand, der den „Irrweg der Entwicklung sperren will“. Nach den Schüssen von Sarajewo erkennt Kraus mitten im Kriegsgeschrei als einer der wenigen den Widerspruch zwischen der pathetischen Empörung der Presse, den Demonstrationen des Pöbels und der heimlichen Genugtuung über die Ermordung des Thronfolgers. Franz Ferdinand und seine Entourage werden in konservativen Kreisen Wiens ja oft als „Belvedere-Bagage“ bezeichnet.

„Die Fackel“, jene Zeitschrift, die Karl Kraus 922 Ausgaben lang ohne einen einzigen Mitarbeiter allein verfasst, erscheint auch nach der üblichen Sommerpause nicht. Erst nach vier Monaten Krieg, am 19. November 1914, bricht er sein Schweigen – um zu begründen, warum er weiter schweige: „In dieser großen Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; … in dieser da mögen sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch Schweigen vor Mißdeutung bewahrt … Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige!“ Andere Autoren schweigen nicht. Sie versuchen sich von Beginn des Krieges an mit kriegshetzerischen Pamphleten zu überbieten: Hermann Bahr stellt fest „Wir sind genesen. Geliebt sei dieser Krieg …“ Für Anton Wildgans ist der „Tag der großen Rechenschaft gekommen, es wird mit heißem Blut und kaltem Eisen ein wundersames Menschenwerk getan“. Alfred Kerr wünscht allen Gegnern „Bandwurm, Hühneraugen, Krätze“. Der Reserveoffizier Roda Roda meint: „Serbien muss sterbien …“

Neben Karl Kraus bleiben Hermann Hesse, Arthur Schnitzler und Stefan Zweig stumm. Der Dichter und Pharmazeut Georg Trakl muss im Schlachtengetümmel der „Todesgruben von Galizien“ als Militärapotheker Schwerstverwundete versorgen. Die Erlebnisse an der Front drängen den hochsensiblen Lyriker immer tiefer in Depressionen. Im Krakauer Lazarett wählt der erst 27-Jährige mittels einer Überdosis Kokain den Freitod. Bald kann der Pazifist Karl Kraus nicht mehr schweigen. Im Oktober 1915 erscheint nach langer Pause eine auf 168 Seiten angewachsene „Fackel“. Klar spricht Karl Kraus ab sofort die Gräuel und die zur Pflicht gewordene Bestialität des Ersten Weltkrieges an. Er entlarvt Doppelmoral, prangert Korruption und falsch verstandenen Zeitgeist an. Trotz Zensur, Denunziationen und mehrmaliger Konfiszierung der „Fackel“.

All die Pamphlete, Glossen und Gedichte verdichten sich in seinem Hauptwerk zu einer Warnung vor der Apokalypse – zu den „Letzten Tagen der Menschheit“: In Österreich, „der Versuchsstation des Weltuntergangs“. Dieses für ein „Marstheater“ gedachte Drama, das mehr als 200 lose zusammenhängende Szenen umfasst, gilt lange als unspielbar, weil es ungekürzt rund zehn Theaterabende dauern würde. Später verweigert Kraus auch aus diesem Grund Regisseuren wie Erwin Piscator oder Max Reinhardt die Aufführung dieses makabren Wachsfigurenkabinetts des Krieges voller Wortwitz und Sprachkunst. Jetzt wird das Hauptwerk des Satirikers Karl Kraus wieder einmal aufgeführt. Als Theater-Höhepunkt der diesjährigen Salzburger Festspiele. Nach den Turbulenzen um Matthias Hartmann hat Georg Schmiedleitner die Regie übernommen. Ein Linzer Theatermacher, der zeitgeschichtliche und gesellschaftspolitische Themen mit Laien und Schauspielern unkonventionell aufarbeitete. In „A Hetz“ karrte er die Zuschauer in Bussen zu verschiedenen Schauplätzen um die Ortschaft Ottnang. Eine Theaterperformance über Geld und Gesellschaft, Verlogenheit und bedrückende Schicksale.

Wie in „Die letzten Tage der Menschheit“: „Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Larven und Lemuren, die hier auftreten, tragen lebende Namen.“ Jeder der fünf Akte leitet das Leben und Treiben an der noblen „Sirk-Ecke“ der Wiener Ringstraße ein. Zeitungsausrufer, die „Nieda mit Serbieen!“ brüllen, Offiziere, meist unterwegs in ein Café, die amüsiert über die politische Situation wie über ein neues Schlamperl plaudern. Nur wenige Szenen finden in der Nähe von Kampfhandlungen statt. Die Gräuel des Krieges schildert Kraus voller Witz und Sarkasmus im Verhalten jener, die in ihrer Oberflächlichkeit die Realität des Ersten Weltkrieges weder wahrnehmen wollen noch können – sondern sich fernab der Schlachten bereichern und den Krieg mit Phrasen beschönigen: Alle die wehrfähigen Zivilisten, die „hinaufgehen, um sichs zu richten“, Offiziere, weit weg von der Front, die sich ihm Ruhm ihres militärischen Ranges suhlen, Schieber und Profiteure, für die Krieg Geschäft bedeutet, kuriose adelige Marionetten, wie Bambula von Feldsturm oder Dlauhobetzky v. Dlauhobetz und die sensationsgeile „Journaille“. Alice Schalek ist die einzige vom Kriegspressequartier zugelassene weibliche Berichterstatterin: Obwohl sie die „Kopfschüsse recht belästigend empfindet“, bedauert sie jeden, „dem es nicht vergönnt ist, Tirol im Kriege zu sehen …“ Über das Sterben der feindlichen Soldaten freut sich die Reporterin an der Front: „Wir putzten sie einzeln weg wie auf der Hasenjagd.“ Den Lesern der „Neuen Freien Presse“ schildert sie ihren ganz persönlichen Kriegsalltag: Da wird „tüchtig gegessen, man schläft prächtig und nächsten Mittag spielt die Militärmusik bei der Offiziersmesse auf. Im Freien wird gespeist, die Spargel schmecken gar köstlich, und süße Walzermelodien wetteifern mit Kuckuck und Specht“.

In vielen Szenen steigert sich die Satire zu beklemmender Realität, das Lachen bleibt einem im Hals stecken. Etwa wenn die „männliche Gasmaske die weibliche Gasmaske als ,schöne Maske’“ anspricht, ein alter Schieber zusammenbricht, weil vom Frieden gesprochen wird, ein Fotograf einen Feldherrn um ein „feindliches Gesicht“ ersucht oder ein General die Mannschaft tadelt, weil „einem Soldaten die Beine fehlen und ein anderer keinen Kopf hat“. Vier Jahre nach Ende des Krieges erscheinen „Die letzten Tage der Menschheit“ in Buchform. 792 Seiten stark. Ein schauriges Foto bildet den Frontispiz: Der feiste Scharfrichter Josef Lang, umgeben von Gaffern, die voller Vergnügen einer Hinrichtung beiwohnen. Dass der Tod den Delinquenten erst nach mehr als acht Minuten erlöst, scheint den schmunzelnden Henker und die Zeugen mit grinsenden Gesichtern, die sich ins Bild gedrängt haben, besonders gefreut zu haben.

Am 15. Juni 1936 wird Karl Kraus begraben. Der Nachlass reicht nur knapp, um die Beerdigungskosten zu begleichen. Im Testament hat er festgehalten, dass Sidi ein Spazierstock, das „silberne Cigarettenetui“ und die „Papierschere mit Goldgriff“ zu überlassen sind. Ihre Briefe sind u n g e l e s e n an sie zu retournieren. Sidonie Nádherný erscheint fast unbemerkt und wirft, noch bevor die ersten Erdhaufen fallen, einen Ring in das Grab.