Leben

In der Venus-Falle: Über Versuche, in eine andere Haut zu schlüpfen

Fünf Deka Extra in eine Semmel mit Gurkerl“: Zirka so sah mein täglicher Speiseplan bis zu meinem 20. Lebensjahr aus. Zu speziellen Anlässen gab’s Berner Würstel. Mit viel Speck, Käse, Pommes und Ketchup. Sport? Schmalzbrot! 

Damals fing ich an, Frauenmagazine zu lesen. In der „Freundin“, der „Petra“ und der „Brigitte“ konnte ich mich sinnloserweise verlieren: Welcher Look passt zu mir? Welche Frisur? Welcher Bikini? Wie würde ich in dieser weißen Hose von Model Meike aussehen, die mit wehendem Haar am Strand posiert, während ich mich an die Rippen des Heizkörpers kuschle.

Ich verordnete mir – trotz Naturlocken – Meikes Dauerwelle und wusste beim Toll, Frl. Weller! des Stylisten, dass ich einen sehr großen Fehler gemacht hatte. Ich kaufte Meikes Blusen, in denen ich aussah wie die Drittbesetzung aus „Drei Engel für Charlie“.

Die erste Wahnvorstellung

Ich zwängte mich in Meikes Jeans, die ich nur mit Hilfe einer starken Freundinnenhand und im Liegen schließen konnte. Die 90-60-90-Meikes in den Magazinen hatten schöne Schuhe, lange Wimpern und flache Bäuche. Die wollte ich auch, aber in umgekehrter Folge.  Erst der Bauch, dann die Schuhe, die Wimpern würden irgendwann automatisch dazuwachsen. Die erste  Wahnvorstellung, ich sei nicht schön und dünn genug. 

Iss die Hälfte, iss nix!

Ich müsste nur wie Meike aussehen, dann wäre alles gut. So kam das D-Wort in mein Leben – D wie Diät. Eine passende zu finden, war gar kein großes Ding. Übers Abnehmen redeten die „Mädels“ am Vierteltelefon, nach dem Kino, im Sesselkreis, auf der Damentoilette und beim Ökista-Gschnas. Jede meiner Freundinnen hatte ihr Geheimrezept: Iss die Hälfte, iss gar nichts, iss gar nichts außer einen Granny Smith zu Mittag, iss den ganzen Tag nur Eier oder aber: Rauch’ einen Tschick, wenn du Hunger hast. Best of Nihilismus. 

Mein erster Appetitzügler hieß „Magic Soup“ – und die war rückblickend (so im Vergleich zu dem, was noch folgen sollte) gar nicht einmal so übel. Die klassische Mono-Diät. Tagelang schlürfte ich mich mit Hilfe eines einzigen Suppenrezepts durchs Leben, wie alle Fans dieser Abnehm-Methode fix davon überzeugt, dass der Körper beim Verdauen der Flüssigspeise mehr Kalorien verbrennen würde, als diese enthalte. Aber auch die Inhaltsstoffe würden die Fettverbrennung ankurbeln: Frühlingszwiebel, grüne Paprika, Sellerie, Zwiebelsuppenpulver, Kohl, Dosenparadeiser. 

Nach Tag drei engagierten Löffelns aß ich parallel dazu eine ganze Packung Knäckebrot, weil ich das Gefühl hatte, mich zu verflüssigen. Nachts träumte ich vom schwerelosen Tanz im Fruchtwasser, das nach Schweinsbratenaromen und Schnitzelflankerln schmeckt.  

Mit der Zeit sah mein Bauch  aus wie eine bummvolle Ballaststoffhalde. An Tag vier gab ich den Suppenlöffel ab, wog zehn Deka mehr als zuvor und vermutlich immer noch zehn Kilo mehr als Meike. Zurück zur Wurstsemmel, aber auch zu K wie Kalorienzählen. In ein kleines grünes Buch notierte ich ab sofort alles Gegessene samt Kaloriengehalt und beschiss mich dabei selbst, indem ich jede Trüffelkugel und Mannerschnitte vor mir  verheimlichte, bzw. vor dem grünen Buch. 

Die Diät der Stars

Die Meike in mir reagierte sehr böse. Was aber nichts machte, schließlich hatte ich inzwischen von der Hollywood-Diät gelesen (auch Beverly Hills-Diät, wenn ich mich nicht täusche). Die Zeit war gekommen, um wie ein Star Gewicht zu verlieren. Es fehlte zwar an einer Villa samt Pool und dazugehörigem Poolboy mit Massageerfahrung, aber Wurschtsemmerl. Das Ganze ein Sechs-Wochen-Programm, bei dem man in den ersten zehn Tagen nichts essen durfte, außer bestimmte Obstsorten in einer bestimmten Reihenfolge. Von nun an steckte mein damaliges Mini-Gehalt in den  so raren wie teuren, aber äußerst enzymreichen Papayas, Mangos und Ananas. Egal. Meike war high, nur meine Diarrhö war nicht schön.

Nach vier Tagen hatte ich ein halbes Kilo weniger als vor der Obstkur. Ich belohnte mich mit zwei oder drei Trüffelkugeln. Meike schaute darüber hinweg. Schließlich schimmerte schon eine Flasche mit Ahornsirup am Horizont: Nimm mich! Dazu kullerten ein paar Zitronen rum. Die Freundinnen redeten fast täglich, leicht hysterisch, von der „Ahornsirup-Diät“, auch als „Master-Cleanse-Diät“ bekannt. Wer von uns hält’s länger durch, tagelang nichts außer Zitronensaftwasser mit einem Schuss Ahornsirup und einer Prise Cayennepfeffer zu saufen? 

Am Vormittag von Ahornsirupzitronentag vier stellte mir mein damaliger Chef (Werbeagentur) eine beruflich relevante Frage, die ich freundlich, aber lallend beantwortete, mein Blutdruck lag irgendwo unter 70. Er schickte mich nach Hause, und empfahl mir, erst wiederzukommen, wenn ich etwas Festes zu mir genommen hatte. Meike meinte, da müsse ich durch. Ein Kilo hatte ich verloren, einen See an Magensäure gewonnen. „Da muss zügig mit Milch und Semmeln gegengesteuert werden“, dachte ich und ernährte mich ab sofort von gut abgelegenem Weißgebäck und Kuhmilch.

Die von mir recht eigenwillige Auslegung der F-X-Mayr-Diät fand ich so inspirierend, dass ich täglich an die 15 Semmeln samt einem Liter Milch in mich hineinleerte. Manchmal aß ich das Gebäck auch ohne Milch, stattdessen mit Butter, weil: Kuh ist Kuh. Nach einer Woche hatte ich drei Kilo mehr und gefühlte zehn Topfenstrudel im Bauch. Meike weinte. 

Ein Entsafter muss her!

Jetzt war klar: Ein Entsafter muss her, dazu fünf Kilo Karotten und Staudensellerie. Ich schwor den Semmeln ab und beschloss, mich mit einem Kopfsalat zu verloben. Meike war glücklich. Eines Tages wachte ich wieder einmal hungrig auf und fragte mich, welcher Trottel eigentlich die erste Diät erfunden hat. Es war William, nicht Meike. Ein Mann also, der im Jahr 1862 die erste Diätwelle in Europa ausgelöst hatte.

Der dicke Bestatter William Banting hatte vom Arzt seines Vertrauens Abnehmtipps bekommen, die ihm halfen, 23 Kilo innerhalb eines Jahres zu verlieren, ohne verzichten zu müssen. Er aß rund um die Uhr Rindfleisch, Hammel, Wild, Geflügel, Fisch, Speck und Aufschnitt, dazu reichlich Alkohol, Obst und Gemüse, aber keine Kohlenhydrate. Die erste Low-Carb-Diät, also. Banting gab ein Buch mit dem Titel „Letter on Corpulence“ heraus – es wurde zum Bestseller. 

Süffeln wie Karl Lagerfeld

Angeblich betrachtete er Fett als etwas Körperfremdes und Parasitäres. Von nun an gaben Millionen Frauen in der Sommerfigur-Depression Geld für Light-Produkte aus, tranken pappigen Schlamm aus Bechern oder grünen Schlatz aus Glasflaschen, sie quälten und erniedrigten sich. Nagten an Erdäpfeln, Eiern oder süffelten – wie angeblich einst Karl Lagerfeld – täglich zehn Flaschen Cola Light.

Mitunter warfen sie Appetitzügler ein – und glaubten dabei an das Wunder plötzlicher Erschlankung trotz bereits lächerlich niedrigen Body-Mass-Index. Und immer wieder die quälende Frage: „Bin ich zu dick?“. 

Schluss. Aus. Ich hatte es so satt. Von diesem Tag an aß ich entschlossen, was mir guttat und womit ich mich wohl fühlte. Ich fing an, Sport zu machen, genoss, zu genießen, Trüffelkugeln, ein gelegentliches  Wurstsemmerl, das Leben und meinen  Bauch. Vor allem aber fand ich mich schön – nicht zu dick, nicht zu dünn. Gabriele eben, nicht Meike. Hm. Was aus der wohl geworden ist?