Leben

Hautnah

Auf Angelina Jolies Haut gibt es kaum mehr eine freie Stelle.
Ein kämpferisches Know your rights – Kenne deine Rechte – kann man an ihrem Hals lesen. Lady Gagas Oberarm ziert eine pathetische Ode an Rainer Maria Rilke und Megan Fox hat sich auf das rechte Schulterblatt ein Shakespeare-King Lear-Zitat tätowieren lassen.

Tattoos sind gesellschaftsfähig. Tätowierungen haben das Schmuddel-Image längst hinter sich gelassen. Das Verruchte, das Mystische der Tattoo-Szene ist Vergangenheit. Der Tattoo-Hype ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Irgendwo blinkt fast überall ein Sternderl hervor, der Name der Geliebten am Handgelenk, ein übermütig springender Delfin – nicht nur Promis wollen ihren Körper sprechen lassen. Und auch die Werbeszene hat Tattoos als Botschaft einer New Generation erkannt. Inzwischen sind junge Nichttätowierte fast zur Randgruppe geworden.

Die Zukunft der Tattoos ist vorprogrammiert. Die Haut wird nicht nur Kalendersprüche und hübsche Bilder zeigen, sondern wesentliche Funktionen des Alltags übernehmen: Motorola hat bei der US-Patentbehörde unter der Nummer 20130297301 längst ein elektronisches Tattoo schützen lassen, das Telefonieren einfacher machen soll. Am Hals wird eine Tätowierung mit integrierter Sendeeinheit inklusive Akku und ein unter die Haut gebranntes Mikrofon Handy-Gespräche ermöglichen. Die Schwingungen der Stimmbänder werden direkt erfasst und über Bluetooth oder NFC, einen neuen Funkstandard zur drahtlosen Datenübertragung, an das Smartphone übermittelt. Besorgniserregend ist beim Motorola-Patent das Kleingedruckte: Man könne bei diesem smarten Tattoo anhand von Hautreaktionen erkennen, ob jemand nervös ist oder Unwahrheiten erzählt. Problemlos wird dann das Display der elektronischen Tätowierung zum Lügendetektor …

Wesentlich sympathischer sind andere Zukunftsperspektiven. Etwa Tattoos mit 3D-Optik oder spezielle UV-Farben, die anstatt normaler Tinte unter die Haut gespritzt werden, bei normalem Licht nicht zu sehen sind und Menschen im Dunkeln leuchten lassen. Irgendwann wird auch der Akkustand des MP3-Players während des Fitness-Trainings kein Problem mehr sein. Dann werden Tätowierungen Strom erzeugen können: Forscher der Universität in San Diego arbeiten an einem temporären Tattoo, das Elektronen aus dem im Schweiß enthaltenen Enzym Laktat zieht – und daraus Strom produziert. Eigentlich wollten die kalifornischen Wissenschaftler nur einen Tattoo-Sensor zur Messung der Laktat-Werte von Sportlern entwickeln, durch Zufall entdeckten sie die Eigenschaft, Energie aus Schweiß zu erzeugen: Bald könnten Bio-Batterien Strom erzeugen.

Revolutionär ist die vom Neurologen Brian Litt an der Universität von Pennsylvania perfektionierte Tattoo-Technologie, die es schon bald ermöglichen soll, Displays mit LED-Flüssigkeit unter die Haut zu platzieren, die gesundheitliche Informationen liefern, zum Beispiel einem Diabetiker seinen momentanen Blutzucker-Wert anzeigen.

In Zukunft werden 3D-Drucker das Tätowieren übernehmen, wir uns mit Mini-Chips unter der Haut ausweisen, Autos und Türen öffnen und bargeldlos bezahlen. Mit Hilfe der unter die Haut tätowierten winzigen Computer steuert man dann auch alle elektronischen Geräte. Bis sich diese für viele beängstigende Vision in unserer Gesellschaft durchsetzt, bis wir eines Tages mehr Computer sind als unser iPad, bis der Mensch zur Fernbedienung geworden ist, wird zum Glück noch einige Zeit vergehen. Und Angelina Jolie noch irgendeine Körperstelle finden, die für ein neues Tattoo frei ist.

michael.horowitz@kurier.at