Leben

Zerbrechlicher Zauber

Legen Sie die Tasche am besten hierher, den Mantel können Sie dort hinten aufhängen“, sagt die Künstlerin Rosemarie Benedikt, 75. Sie hat immer im Blick, was ihren zerbrechlichen Werken, die in ihrem Keramikatelier in Wien Wieden stehen, gefährlich werden könnte. Jede kleine Unachtsamkeit, jede etwas zu ausholende Handbewegung und jeder Stolperer könnten jetzt verhängnisvoll sein. Vorsicht ist geboten bei so viel Porzellan und Glas in diesen Räumen – lieber leiser treten und behutsam um sich blicken. Wie bei einem kostbaren Kunstwerk, das es erst einmal zu erfassen gilt. Eine farbenfroh bestückte Riesenameise aus Murano-Glas im Regal oben links hat ein aufgemaltes freches Grinsen im Gesicht. Fast möchte man zurückgrinsen ... Manchmal ist es der Zufall, der einen an besondere Orte führt. Wenn man sich etwa in einem Bezirk, den man nicht kennt, verirrt – und sich plötzlich irgendwo unweit der U-Bahnstation Hauptbahnhof vor einem Schaufenster wiederfindet, dessen Auslage Neugier weckt. Was ist denn hier los? Eine fantastische Tierwelt in allen möglichen Formen und Farben offenbart sich: Porzellan-Katzen auf zwei Beinen etwa. In Badeanzügen, mit Nasenbär und Fisch unter dem Arm – oder auf dem Kopf. Fantastische Figuren, halb Mensch, halb Vogel, maskiert und dekoriert. So wie bunte Hunde, überzogen mit raffinierten Mustern, unzählige kleine und große lustige Nasenbären, schnäbelnde Vasen und stylische Highheels.

Ihre beliebtesten Studienobjekte wären dann vermutlich Riesenameise und Nasenbär.

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Um noch etwas vom Inneren des Geschäfts zu erkennen, formt man seine Hände automatisch zum Guckloch, berührt mit der Nasenspitze fast die Scheibe. Doch diese spiegelt das spärliche Sonnenlicht zu sehr, an diesem Vormittag. Egal, ein Mal die Türe aufdrücken und schon steht man mittendrin: Im Keramikatelier, das die Größe einer typischen Zimmer-Küche-Kabinett-Altbauwohnung hat, existiert eine Welt, die von jahrhundertealtem Handwerk zeugt und gleichzeitig so lebendig ist wie jeder neue Geistesblitz, den ein Künstler nur haben kann. „Pension und im Kaffeehaus zu sitzen sind nichts für mich“, sagt Rosemarie Benedikt, die seit 50 Jahren mit Keramik arbeitet. Sich über all die Zeit in Schweden, Finnland, Japan, Mexiko und Italien Inspiration und Know-how holte und 37 Jahre in der Meisterklasse für Keramik an der Universität für angewandte Kunst in Wien unterrichtete. Doch dann kam ein schwerer Einschnitt in ihrem Leben: 2004, auf einer ihrer Reisen. Ein Schlaganfall. „Das Gehirn war sehr streng mit mir“, sagt sie, „es ließ mich die Hand nicht mehr führen, wie ich wollte.“ Der Arzt meinte, dass es ihr helfen würde, möglichst rasch weiterzuzeichnen. Das tat sie. Längst geht es Rosemarie Benedikt wieder gut. Sie bleibt dran, bleibt im Fluss. Das hatte sie schon ihren Studentinnen und Studenten mitgegeben: „Wer kreativ arbeiten will, muss immer weitertun, bei der Sache bleiben. Zu große Pausen bringen einen raus.“ Dabei gehe es auch darum, sich stets weiterzubilden, sich auch für Politik zu interessieren, offen für Neues zu bleiben. „Jetzt mach’ ich etwas Lustiges für Sie“, kündigt die Künstlerin fröhlich an. Sie steht an der Werkbank. Mit etwas Wasser verdünnt sie Schlickpaste, trägt davon etwas auf Körper und Kopf einer neuen Figuren-Kreation. Sie will den Kopf gleich draufsetzen, wenn der Fotograf kommt. „Papageno“ murmelt sie konzentriert vor sich hin. Ja, das passt. Mozart würde er sicher gefallen. Ihren eigenwilligen Vogelfänger kreiert sie mit viel Witz. Das Fantasiewesen hat einen Vogel am Rücken und eine sehr lange Nase, die wie eine Maske wirkt. So eine ähnliche Maske hatte Rosemarie Benedikt beim Karneval in Venedig vergangenes Jahr zum ersten Mal selbst angelegt – sie für ihre Figuren zu verwenden, das kam ihr erst vor Kurzem in den Sinn.

Die Künstlerin hat sichtlich Spaß, dreht den Langnasen-Kopf spielerisch über dem Körper, bis er die richtige Position hat. „Tschuk-tschuk“, sagt sie, dann drückt sie ihn fest. „Jetzt mach’ ich noch die Arme.“ Schlick verstreichen, Arm ansetzen, „tschuk-tschuk“, dran ist er. Und gleich noch den zweiten: „Tschuk-tschuk“. Sitzt der verkehrt? Nein, der gehört so. Jetzt kann die Figur trocknen. Klingt einfach, ist es aber nicht. „Um ein Stück fertigzustellen sind sicher 100 Handgriffe notwendig. Obwohl, das kann man gar nicht zählen. Wahrscheinlich sind es noch viel mehr“, sagt ihr Mitarbeiter Hermann Seiser. Dabei wird immer an mehreren Stücken parallel gearbeitet. Doch keines davon wird es zwei Mal geben. „Das wäre mir viel zu langweilig“, betont Rosemarie Benedikt. Jede Figur ist ein Unikat. Obwohl mit Gipsformen gearbeitet wird, in welche die palatschinkenteigartige Keramikmischung gegossen wird. Nicht der erste Schritt des Entstehungsprozesses. Ob Nasenbär, Vogel, Katze, Eule, Hund oder Hase – alle Figuren modelliert Rosemarie Benedikt vorab mit Ton. Wie ein Bildhauer, bis ins letzte Detail. Wird diese ins Sortiment aufgenommen, entstehen dafür die Formen. Mehr als 300 Prototypen von Kunststücken sind bisher entstanden. Das ganze Hinterzimmer des Ateliers ist voll mit in Regale eingeschlichteten Formen für unterschiedliche Arme, Köpfe, Beine, Schnäbel, Pfoten und Körper. Wie viele sind das wohl? Schwierig zu schätzen, 400, 500 oder mehr? Im Keller soll es noch mehr geben. Viele Teile sind miteinander kombinierbar, werden dann im Produktionsprozess händisch zusammengefügt, dekoriert, bemalt und ganz zum Schluss aufgarniert. Wie es eben gefällt. Hauptsache immer anders. „Inspiration und Ideen habe ich immer“, sagt Rosemarie Benedikt und betrachtet zufrieden lächelnd einen Papageno, den sie schon fertig hat. Er ist ihr besonders gut gelungen. Da kann es auch mal schwerfallen, so ein Stück herzugeben, gesteht sie. „Aber ich mag sie alle“, fügt sie ganz schnell hinzu, als könnten die anderen Papagenos und Porzellankollegen Nasenbär, Katze und Eule es hören. „Es ist jedes Mal ein Abenteuer, wenn fertige Stücke aus dem Ofen kommen“, sagt Hermann Seiser. Er hat alle Gipsformen gefertigt, die Rosemarie Benedikt seit mehr als 20 Jahren für ihre zahlreichen „Villeroy&Boch“-Artikel designt hat. So lange arbeiten die beiden schon zusammen.

Auch Olivia Weiss gehört dazu. „Von Rosemarie habe ich so viel gelernt wie von niemandem sonst“, sagt sie. Und Seiser fügt hinzu: „Rosemarie hat alles genau im Blick und im Griff. Das ist gut so. Wir sind ein Team.“ Er gießt Nasenbären in die Formen ein. Erst einen großen, dann einen kleinen. Diese bleiben darin, bis sie in der richtigen Konsistenz zum Verarbeiten sind. Dann werden sie herausgelöst, geputzt, „abgeschwammerlt“, von überflüssigen Rändern befreit, retuschiert und fein gemacht. Erst danach werden einzelne Teile zum Ganzen zusammengefügt und kommen schließlich in den Rohbrand: einen Tag lang bei 900 Grad. In nächsten Schritten wird die Unterglasur aufgetragen, dann die Transparentglasur mit der Spritzpistole und schließlich die Aufglasur. Dazwischen sorgen mehrere Brände für die Brillanz der Farben und die endgültige feste Form – die Stücke können im Ofen um bis zu 20 Prozent schrumpfen. Die Künstlerin Rosemarie Benedikt lässt sich nicht gerne auf ein bestimmtes Material oder eine Figur festlegen. Ja gut, der Nasenbär ist ihr Markenzeichen. „Er ist entstanden, als ich eine Maus auf eine Katze setzen wollte.“ Beim Brennen der Keramik haben sich die Tiere verselbstständigt und vereinten sich zum berühmten Nasenbären, den es wie viele ihrer Stücke auch aus Murano-Glas gibt. Dafür fährt Rosemarie Benedikt regelmäßig nach Venedig, wo die Skulpturen mit Meister Danilo Zanella in der Glasmanufaktur Berengo gefertigt werden. Er ist gefragt bei Künstlern, die ihre Wünsche, Träume und Fantasien in zerbrechliches Glas formen wollen. Als nächste Projekte sind eine Schlange und eine Schildkröte angedacht. Dazu werden zunächst viele Entwürfe gezeichnet. Mit diesen im Gepäck geht es noch im Dezember nach Venedig zur Manufaktur. Mit dem Meister werden dann mögliche Formen und Farben besprochen. Und diskutiert. Auch hier ist jedes Stück einmalig. Gut so, das sorgt dafür, dass Rosemarie Benedikt die Lust an der Umsetzung ihrer Fantasien niemals ausgehen wird. Mag sie lieber die Arbeit mit Keramik oder Glas? „In meinem Alter ist es für mich mit Glas einfacher, da die körperliche Arbeit der Meister macht“, sagt sie. In ihrem eigenen Atelier in der Schönburgstraße genießt sie dafür umso mehr die Stille. „Wenn ich am Abend dort alleine bin, mache ich das Radio aus, male, dekoriere und garniere. Eine Arbeit, die auch hilft, wenn man mal trübe Gedanken hat“, sagt sie. Dabei lässt sie den Blick durch den Raum schweifen, bis er an der Riesenameise mit dem besonders frechen Grinsen haften bleibt – und grinst zurück ...

Von Russland über Australien bis China – die originelle Keramik- und Glaskunst von Rosemarie Benedikt hat viele Liebhaber im In- und Ausland. Ihre Stücke sind laufend in der Galerie Kovacek & Zetter (Stallburggasse 2, Wien 1) zu sehen. Die Glasskulpturen haben hier einen besonderen Stellenwert. Die Künstlerin machte dafür viele Reisen nach Venedig, um dort im Glasstudio Berengo die Figuren zu produzieren – im Gepäck Hunderte Zeichnungen und Entwürfe – die Voraussetzung für alle Kreationen sind. Zudem hat die Wienerin 37 Jahre an der Angewandten unterrichtet und arbeitet bis heute unermüdlich an neuen Kreationen in ihrem Keramikatelier.

WEIHNACHTSAUSSTELLUNG: Vom 12. bis 15. 12. ist eine Auswahl von Rosemarie Benedikts Kunstwerken zu sehen: Fr & Sa 11- 19 Uhr, So & Mo 14-20 Uhr. Ort: Schönburgstr./Kolschitzkygasse, schräg gegenüber dem Keramikatelier (Schönburgstr. 34, Wien 4)