Wo Wien Berlin sein will
Von Christian Seiler
Ich gehe durch die Kirchengasse, eine der Hauptschlagadern durch das
Wien, das sich nicht entscheiden kann, ob es Wien bleiben oder Berlin sein will. Manche Geschäfte – der Geschirr Niessner oder die Berufskleidung Schnepf – behaupten mit ihren Fassaden und Schaufenstern stur, dass die achtziger Jahre noch nicht vorbei sind. Das ehemalige Café Mentone ist mit aidarosa Möbeln so patschert aufgehübscht worden, dass es kultverdächtig bleibt.
Eine ganze Armada von Läden will hingegen unbedingt beweisen, dass ihre Zeitgenossenschaft auch Expeditionsreisen nach Berlin Mitte umfasst hat. Woher sonst käme das Selbstvertrauen, ein Rauchercafé „Treubleiben“ zu nennen, ein aufgepepptes Kleidergeschäft „Kauf dich glücklich“ oder eine Modegenossenschaft „Göttin des Glücks“? Versteht sich von selbst, dass in unmittelbarer Nachbarschaft auch ausgesuchte, hochpreisige Sneakers verkauft werden („Zapateria“) und ein Café mit angeschlossener „Barista Academy“ („J. Hornig“) Kaffee ausschenkt, für den bei Bedarf auch „alternative Brühmethoden“ bemüht werden.
Auch wenn ich der Idee, dass man sich glücklich kaufen kann, eher skeptisch gegenüberstehe, gefällt mir die Kirchengasse in ihrem wilden Eklektizismus, der eine Geschäftsstraße typischen Wiener Kleingewerbes aus dem letzten Jahrhundert mit den urbanen Bedürfnissen von heute versöhnt. Daher spaziere ich gut gelaunt von der Mariahilfer Straße Richtung Siebensterngasse, wo die erste Etappe der Kirchengasse endet.
Von da an geht es bergab, topographisch, mein Schritt beschleunigt sich spürbar. Vielleicht liegt das an dem abschreckendsten unter den vielen abschreckenden Namen, den sich Friseursalons freiwillig verpassen: Dieser hier heißt „GmbHaar“. Auf der anderen Straßenseite hat der „Sammler, Erforscher und Pfleger von Volksmusik und Volkslied in Österreich“, Professor Georg Kotek, eine Gedenktafel bekommen, die in einem auffälligen Spannungsfeld zu den Cocktailbars, Hifi- und Comicläden steht, die diese zweite Etappe der Kirchengasse, zwischen Siebenstern- und Burggasse beleben.
Ich überquere die Burggasse und gehe an einem großen, belebten Billardcafé vorbei, passiere das Hotel Altstadt Vienna eines der aufregendsten Boutiquehotels der Stadt, und marschiere durch die jetzt eher schmucklose Stadtlandschaft der dritten Kirchengassenetappe hinunter zur brummenden Neustiftgasse, wo das Denkmal für den lieben Augustin steht und an der Hausfassade der versteckte Hinweis zu finden ist, dass hier während der Zweiten Türkenbelagerung Wiens das Zelt von Kara Mustafa gestanden sei.
Viel mehr aber rührt mich die aufgelassene Niederlassung der Ledergroßhandlung von Jacob Badl. Zugesperrtes Scherengitter, abgerockte Fassade, schiache Graffiti. Hier sieht Wien noch original aus wie in der Zeit, als die Stadt stagnierte und nicht für ihr Flair, sondern für ihr Grau bekannt war. Also kehre ich auf dem Absatz um und beschließe, mich im Café Ecke Siebensterngasse von einer alternativen Brühmethode zurück in die Gegenwart beamen zu lassen.
christian.seiler@kurier.at