Spazieren mit Ada und Hannah
Von Christian Seiler
Ich gehe an einem Maisfeld vorbei, das behauptet: Wir sind auf dem Land, obwohl ich weiß, dass wir in Wien sind, auch wenn ich die inzwischen ziemlich ausgewachsene Skyline rund um DC-Tower und UNO-City nur weit weg, sozusagen am Horizont erkennen kann, wo noch dazu der föhnige Herbsthimmel spektakuläre Spompanadeln macht, mit seiner anarchischen Gestaltung des Nachmittagshimmels.Die U2 – ihre elegante Trasse führt dort hinter dem Maisfeld quer durch ein anderes Maisfeld – hat mich hierher in die Seestadt Aspern gebracht, Wiens ehrgeizigstes Stadtentwicklungsgebiet. Ich bin noch nicht oft hier gewesen. Beim letzten Mal vor gut einem Jahr tanzten noch unzählige Kräne Ballett, aber jetzt ist aus der Monsterbaustelle schon eine gut erkennbare Wohngegend geworden, auch wenn es an Baustellen nach wie vor nicht mangelt: Jene Riesenbaustelle, an deren Zaun man entlanggehen muss, wenn man aus der U-Bahn aussteigt, wird übrigens von Brettern begrenzt, die der Künstler Gilbert Bretterbauer wunderschön bemalt hat. Hallo, Baustellenchef! Wenn ihr dereinst diesen Zaun abbaut, darf ich ein zwei der Bretter mitnehmen? Bitte!Ich gehe kreuz und quer durch die Seestadt und sehe mit Entzücken, dass hier fast alle Straßen (außer der "Sonnenallee") nach großartigen Frauen benannt sind.
Ich spaziere die Ada-Lovelace-Straße, benannt nach einer britischen Mathematikerin, bis zur Ella-Lingens-Straße, die an die große österreichische Widerstandskämpferin erinnert, folge der Christine-Touaillon-Straße – die Touaillon war eine bedeutende Schriftstellerin und Literaturhistorikerin – bis zum Hannah-Arendt-Platz, der seinen Namen zu Ehren der deutsch-amerikanischen Philosophin und Publizistin trägt, deren berühmtestes Werk am Beispiel von Adolf Eichmann in Jerusalem "Die Banalität des Bösen" seziert.Während ich in der Konditorei Leo ein Punschkrapferl verzehre, denke ich noch darüber nach, wie sehr sich die Tragik und Ernsthaftigkeit einer Biografie, wie sie Hannah Arendt zu eigen war, mit der offenen Universalität einer Straßenadresse verträgt.
Ziemt es sich, an dieser Adresse ein Eisgeschäft zu eröffnen? Mistkübeln hinzustellen? Müsste diese Straße nicht für philosophische Buchhandlungen und Gedenkstätten reserviert sein? Feiert heiteres, unbeschwertes Leben die Erinnerung an eine große Moralistin, oder wirft es einen unangemessenen Schatten auf sie?Sicher ist, dass ich guten Gewissens und vergnügt die Janis-Joplin-Promenade entlanggehe und ihr Lied mit dem Mercedes vor mich hin pfeife. Noch wirken die engagiert geplanten Häuser in der ersten Reihe der Seestadt mit Blick auf den Asperner See wie gerade erst ausgepackte Möbel, sie warten auf ein paar Gebrauchsspuren. Am See entlang führt ein schöner Weg aus Holzpritschen, den gehe ich Richtung Maisfeld.
Alle hundert Meter drehe ich mich um und schaue zu, wie die kreativen Häuser der Seestadt ein bisschen kleiner werden und zu einem Ensemble verschmelzen. Doch, denke ich mir, gute Idee, während im Westen der Himmel nicht zu glühen aufhört. christian.seiler@kurier.at