Soundtrack der Straße
Von Christian Seiler
Ich gehe durch die Stadt und höre Musik. Nein, ich trage keine Kopfhörer. Zwar habe ich durchaus Verständnis dafür, dass du dich in deiner eigenen Schallglocke befinden möchtest, während du gemeinsam mit dem Strom der Menschen zur Schule, ins Büro, zu Terminen eilst. Deine Realität bekommt plötzlich ihren eigenen Soundtrack, und die Fassaden und Straßenschluchten leuchten in Farben, die nur du ganz persönlich siehst.
Ich bevorzuge dennoch den Lärm der Stadt, das Murren der Mopeds, das Wummern der Wagen, das Palavern der Passanten. Ich finde, dass die Stadt keinen Soundtrack braucht, keine musikalischen Untertitel, damit ich sie so erlebe, wie ich es gern hätte.
Denn umgekehrt ist es interessanter. Spezielle Orte treten in einem speziellen Geräuschkostüm auf. Diese Geräusche docken in meinem Kopf an Songs, Lieder, Musikstücke an, die ich dann mit dem jeweiligen Ort verbinde, klangmäßig, textlich, stimmungshaft: So bekommt doch jeder Ort seinen Soundtrack, nur von der anderen Seite, sozusagen aus sich selbst heraus. Hier fünf Beispiele.
1. Quellenstraße (zwischen Neilreichgasse und Quellenplatz): Hier, in dieser orientalisierten Zone Favoritens höre ich klarerweise Klänge, wie sie am schönsten Anouar Brahem, der tunesische Oud-Virtuose, erklingen lässt: Zwischen Friseurstube, Shisha-Bar und Kebapstandl klingt es nach dem lyrischen, kecken „Opening Day“ von Brahems neuem Album „Blue Maqams“: lebendig, frisch und heiter.
2. Prater Hauptallee: Natürlich passt zur Hauptallee mehr als ein Song, aber der, der sie gerade am schönsten feiert, stammt von Ernst Molden und heißt, richtig: „Hauptallee“ (vom Album „Yeah“). Ein munterer, witziger Song, in dem der falsche Frühling entlarvt wird, der im Jänner so tut, als ob schon April wäre: „Falscher Frühling/linker Hund/trotzdem hab i eam gern“. Passt genau.
3. Roter Berg in Ober St. Veit: Hier, in der Biedermeierlandschaft Ober St. Veits, höre ich Friedrich Gulda, wie er Mozart spielt: Eher nicht „Allegro“, sondern „Andante cantabile“ wie im zweiten Satz der Klaviersonate Nr. 10 in C-Dur, K.330. Die bedächtige Schönheit dieser Musik, ihre verzögerte Harmonie und Guldas Ich-scheiß-mich-sicher-nix-Interpretation lassen vor mir den Schwung des Vorstadthügels entstehen, den Ferdinand Waldmüller leider nie gemalt hat.
4. Bäckerstraße: Die Bäckerstraße verströmt, nicht erst seit die Boulangerie Parémi aufgesperrt hat, lebensfrohe Verve. Diese findet sich eins zu eins in den Chansons von Zaz. Wenn ich vom Universitätsplatz Richtung Lugeck gehe, höre ich also Zaz „Je veux“ singen, ich will, hohes Tempo, Lächeln auf den Lippen, fast schon kein Gehen mehr, sondern Tanzschritte. Vom Album „ZAZ“.
5. Mariahilfer Straße: Tagsüber klingt es hier ja eher nach DJ Antoine, aber nachts, wenn ich zum Beispiel vom Stadtsaal Richtung Burggarten gehe, herrscht hier die gepflegte Melancholie, die auch Damon Albarns bitterschöner Song „The Selfish Giant“ vom epochalen Album „Everyday Robots“ verströmt. „It’s hard to be a lover/when the TV’s on“.