Radetzkyplatz: Urbane Idylle
Von Christian Seiler
Ich gehe und suche die urbane Idylle. Das ist ein paradoxer Wunsch, ich weiß, denn der Ausdruck Idylle bedeutet ursprünglich „harmonisch verklärtes ländliches Leben“, was definitionsgemäß im Widerspruch steht zum eher rauen städtischen Alltag, der mehr von Misstönen wie kreischenden Straßenbahnen oder rumpelnden Lkw geprägt wird als vom Gezwitscher der Vögel – wobei, man soll das nicht unterschätzen, die Vögel zwitschern auch in der Stadt.
Zuletzt hörte ich dieses Zwitschern sehr laut, sehr intensiv, als ich nach einem sehr langen, sehr wunderbaren Abend in der frühen Morgendämmerung durch den Stadtpark nach Hause ging – aber so etwas von Gezwitscher, vielleicht sogar Idylle im eigentlichen Sinn des Wortes. Aber das ist nicht das Thema, wenigstens nicht heute.
Wenn ich an städtische Idylle denke, fällt mir immer Alfred Döblins Jahrhundertroman „Berlin Alexanderplatz“ ein, in dem das groteske Scheitern des Helden Franz Biberkopf beschrieben, aber vor allem die Stadt Berlin zu einem poetischen Wesen erklärt wird. Diese Poesie setzt sich nicht nur aus dem Großstadtlärm, sondern aus den unzähligen Sprachen, Slangs und Dialekten der Menschen zusammen, die ihren Kiez, ihre Nachbarschaft bewohnen, beherrschen, lieben, verlieren.
An diesen Alexanderplatz, den es nur noch in der Literatur gibt, denke ich, wenn ich über den
Radetzkyplatz in Wien 1030 gehe. Ich liebe diesen Platz. Hier kommen die Radetzkystraße, die Löwengasse und die beiden Viaduktgassen, Obere und Untere, zusammen. Sie formieren eine halbkreisförmige urbane Fläche, die von der Hochtrasse der Schnellbahn durchschnitten wird. Die Straßenbahnlinien O und 1 verkehren hier, und auf der Schnellbahntrasse sieht man nicht nur die antiken blauweißen Garnituren der S-Bahn vorbeigleiten (man kann sie auch hören), sondern inzwischen auch die City-Jets aus dem Umland und die zweistöckigen Westbahn-Züge, die vom Praterstern direkt nach Salzburg fahren, eine Idee, die auch den ÖBB hätte einfallen dürfen.
Früher befand sich hier eine elegante Otto-Wagner-Stadtbahnstation, sie wurde in der Zwischenkriegszeit abgerissen. An ihrer Stelle verkauft ein Autohändler seine Peugeots, während in einem anderen Viaduktbogen eine feine, kleine Szenewirtschaft eingezogen ist, die Garage 01, eines von vielen Lokalen, das den Platz so munter, so bunt macht, das Café Menta, das früher ein Sonnenstudio war, der „Gockel“, wo man sich für einen schnellen Risotto die Hühnersuppe besorgen kann, vor allem aber das wunderbare Gasthaus Wild, das unaufgeregt über den Radetzkyplatz herrscht und von dessen Garten aus man das urbane Treiben am besten überblickt, inklusive dem hell beleuchteten Würstelstand, wo es Schnitzelkebap gibt oder Kebapschnitzel, ich habe es nicht überprüft.
Wienerisch, Türkisch, Balkanesisch, Armenisch, RTL-Deutsch: Da sind diese Sprachen, Slangs und Dialekte, das Lachen, das Streiten, das Witzeln, das Bestellen, noch ein Seidel Kozel, bitte, und tiefer eintauchen in diese urbane Idylle, die unserer Großstadt einen Schuss Poesie verleiht.
christian.seiler@kurier.at