Literatur-Spaziergang
Von Christian Seiler
Ich gehe durch die Wiener Innenstadt und sortiere Inspirationen. Ich schlendere die
Singerstraße entlang, betrachte im Schaufenster der Buchhandlung „Leporello“ den bunten Umschlag des neuen Romans von Virginie Despentes und beschließe, mir „Das Leben des Vernon Subutex“ bei Gelegenheit zu holen. Es wird in Frankreich mit Balzacs „Comédie humaine“ verglichen, da will ich mehr wissen.
Im Schaufenster der Buchhandlung von Lia Wolf – sie nennt den schönen, kleinen Laden in der Sonnenfelsgasse „Cabinett“ – sehe ich den Band „Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft“, und ich würde sofort in den Laden stürmen und mir dieses Buch ausfolgen lassen, wenn ich es nicht schon hätte – auf Empfehlung der Buchhändlerin, versteht sich, die es sich zur vornehmen Aufgabe macht, mich bei meinen gelegentlichen Besuchen etwas weiterzubilden.
Bei Shakespeare & Company in der Sterngasse kann ich nicht widerstehen und nehme mir den großartigen Essay von Julian Barnes mit, der auf deutsch „Nichts was man fürchten müsste“ heißt und auf Englisch „Nothing to Be Frightened of“. Manche Bücher wie diese heitere, kluge Meditation über den Tod sind mir so ans Herz gewachsen, dass ich sie ein zweites Mal genießen möchte, diesmal in der ureigenen Sprache des Autors, ohne Filter.
Schließlich biege ich in die Domgasse ein. Die Domgasse ist eine sehr kurze Gasse. Sie führt von der Schulerstraße zur Grünangergasse, ist vielleicht 120 Meter lang, ich habe nicht nachgemessen. Touristen, die hier verloren herumstehen und auf ihren Stadtplan starren, wollen in der Regel zum Mozarthaus, diesem wunderschönen Barockhaus, wo der Meister zwischen 1784 und 1787 gewohnt hat.
Ich aber lasse das Mozarthaus links liegen. Mein Ziel ist die Buchhandlung 777 auf Nummer 8. Dieser Laden hatte einmal eine Vergangenheit als esoterisches Zentrum, das erklärt den Namen, aber davon ist wenig geblieben. Der Buchhändler, Herr Würch, ist ein mehr am Dies- als am Jenseits interessierter Herr, der seinen Laden zu einem formidablen Wohnzimmer mitten in der Stadt ausgestaltet hat. Hier kann ich nicht nur Kaffee von selbst gerösteten Bohnen bekommen (vormittags) oder deutschen Riesling (nachmittags), sondern auch genießen, was ich den intellektuellen Gemischtwarenhandel nenne: Neben Büchern, deren Exzerpte mir Herr Würch samt Lagebeurteilung aus dem Stegreif ans Herz legt, erfahre ich auch Wesentliches aus der Welt des gehobenen Jazz, der Balkanwurst oder neuer Erkenntnisse in der Behandlung kranker Porsche 911-Motoren – schließlich ist der Chef ein ausgebildeter Automechaniker, weil er, bevor er seine Buchhandlung aufsperrte, etwas Handfestes lernen wollte. Nebenberufe als Koch, Ökonom, Gestalter, Veranstalter und Alleinunterhalter sind ebenfalls aktenkundig.
Hier kaufe ich fast alle meine Bücher. Noch lieber aber bin ich nur anwesend, und weil ich diese Passion mit Gleichgesinnten teile, steigern sich die Gründe, die Domgasse aufzusuchen, exponentiell. Nummer 8, oder hab ich das etwa schon gesagt?