Kollektive Kunst am Bau
Von Christian Seiler
Ich gehe auf der
Staatsbrücke über die Salzach, lasse die barocke Altstadt hinter mir und steuere auf den eleganten, metallisch glänzenden Hochsitz zu, den die Künstlerin Marina Abramović hier hinterlassen hat. Das Kunstwerk heißt „Spirit of Mozart“, und die Gebrauchsanweisung lautet, auf dem fünfzehn Meter hohen Stuhl (oder, etwas praktischer, auf einer der darum gruppierten, ebenerdigen Sitzgelegenheiten) Platz zu nehmen, die Augen zu schließen und die Zeit zu verlieren.
Ich würde diese poetische Einladung gern annehmen. Aber leider regnet es cats and dogs, wie man in Salzburg sagt, deshalb gehe ich weiter, stadtauswärts, vorbei am Sacher, dem Café Bazar und dem Makartsteg, dem eleganten Neubau der früheren, im Jugendstil erbauten Fußgängerbrücke zwischen linkem und rechtem Salzachufer, und ich kann meinen Blick nicht abwenden von den wie Strass glänzenden Geländern des Stegs, was freilich nicht der Intention der Architekten von Halle 1 entspricht, denen die Planung der Brücke oblag, sondern, wenn man so will, kollektive Kunst am Bau ist: Ich habe sie nicht gezählt, aber es müssen Zehntausende Schlösser in allen Farben und Formen sein, die von Menschen als Zeichen ihrer Verbundenheit an das Drahtgitter geheftet wurden, das die Segmente des Geländers verbindet.
Ich stehe im Regen und weiß nicht, was ich denken soll. Ist das, erster Gedanke, der pure Kitsch, die Verschandelung öffentlicher Ästhetik durch die Manifestation eigener Gefühle? Oder erzeugt diese Materialisierung so vieler kleiner und großer Liebesgeschichten, so vieler oberflächlicher, aber auch tief empfundener und bebend formulierter Emotionen ein eigenes Energiefeld? Hebeln die Liebesschlösser etwas Hehres, Positives in den Luftraum über der Salzach oder sollte die Stadt einen Schlosser beschäftigen, der jeden Abend für klare Linien und unkitschige Sauberkeit sorgt? Ich muss ein bisschen weitergehen, um darüber nachzudenken, und finde mich auf einmal vor einem wunderschönen, schlichten Sakralbau direkt neben der Eisenbahnbrücke, auf der die Westbahn Richtung Innsbruck weiterrollt und für ein paar kostbare Momente den Blick auf die Festung Hohensalzburg freigibt: Es muss ein Sakralbau sein, denn ein schlichter, schlanker Betonturm von quadratischem Umriss strebt nach ganz weit oben, und dahinter faltet sich das fensterlose Schiff des Gebäudes ans Salzachufer.
Aber als ich mein iPhone heraushole, um zu googeln, welcher souveräne Architekt für dieses Bauwerk verantwortlich ist, finde ich heraus, dass die Kirche keine Kirche, sondern das Heizkraftwerk Salzburg-Mitte ist, geplant vom Schweizer Architekturbüro Bétrix & Consolascio. Das beeindruckt mich fast noch mehr. Anderswo, zum Beispiel in der Spittelau, klebt man Schloten Zwiebeltürmchen an. Hier lässt man sie streng sie selbst sein. Als ich wieder zurück Richtung Altstadt gehe, Festung und Weltkulturerbesilhouetten vor mir, weiß ich, dass eine Stadt, die ihren Kraftwerken so eine Gestalt geben kann, ein paar Liebesgeschichten verträgt. Der strassglitzernde Makartsteg stimmt mir sicher zu.
christian.seiler@kurier.at