Leben/Gehen

Können Sie das Wort Gentrifizierung buchstabieren?

Ich gehe von Meidling auf der Arndtstraße Richtung Innenstadt. Augenblicklich befinde ich mich in einer Gegend Wiens, die mir neu und ungewohnt ist, als wäre ich in einer fremden Stadt unterwegs.
Ich bin nicht stolz darauf. Aber manchmal auf meinen Spaziergängen irre ich wie ein versprengter Tourist durch die Vorstadt, mache Fotos von leeren Geschäften, überprüfe auf dem Handy, wo ich gerade bin, strecke meinen Kopf in Wirtshäuser ohne Namen, registriere Schriftzüge an leerstehenden Häusern, erlebe Situationen in kleinen Parks, die ich nicht recht entschlüsseln kann – passen die Grüppchen junger Typen auf ihre kleinen Geschwister am Spielplatz auf, oder nur darauf, dass sie niemand beim Kiffen erwischt?
Das Einzige, was in der Arndtstraße neu aussieht, ist der Radweg, der gegen die Einbahn stadteinwärts führt. Das Wohnhaus aus dem Jahr 1985 hingegen, an dem ein Schild angebracht ist, das den Slogan „Gesunde Wohnungen – Glückliche Menschen“ im Titel führt, hat eine so dunkle Fassade, als wäre sie seit Jahren mit Ruß bedampft worden. Und in manche der aufgegebenen kleinen Quartierläden sind Rotlichtbetriebe eingezogen. Die werben auch damit, dass sie „Neue Girls“ im Angebot haben.
Ich überquere den Margaretengürtel mit seinen abwehrbereiten Wohnburgen aus den Dreißigern und folge der Margaretenstraße, die hier schmal und krumm ist und sichtlich unentschlossen, ob sie zu einem aufgegebenen oder aufblühenden Stadtteil gehört. Die Metzgerei Thum ist hier zu Hause, die das Monopol auf den besten Beinschinken der Stadt hat, und etwas weiter stadteinwärts, hinter dem eindrucksvollen Karré des Margaretenhofs, beginnt sowieso der Berliner Teil dieser Straße – ein Stakkato von Kultur- und Kreativeinrichtungen, Delikatessengeschäften, Kinos, Weinbars und Cafés, freilich immer wieder unterbrochen von Relikten des alten, handwerklichen Wien, einem Tapezierer, einem Schaumstoffhaus, einem Augenarzt, der seiner Praxis ein Schaufenster mit furchteinflößenden Instrumenten spendiert hat.
Am plakativsten springt mir dieser Gegensatz zwischen Alt und Neu dort ins Auge, wo ein Schriftzug aus den späten fünfziger Jahren „FLEISCH- UND WURSTWAREN“ eines Geschäfts anpreist, das geschlossen und vernagelt ist. Direkt daneben hat eine „Fleischboutique“ geöffnet, und ohne zu wissen, ob das eine Geschäft dem anderen entsprungen ist oder es verdrängt hat – ein bisschen schwer wird mir, dem optimistischen Nostalgiker, trotzdem ums Herz.
Noch weiter stadteinwärts, dort wo die Margaretenstraße endgültig schick geworden ist, haben meine Freunde von der Agentur „friendship is“ ihr Hauptquartier. Als ich sie besuche, um über die Veränderungen, die ich beobachtet habe, zu sprechen und das Wort „Gentrifizierung“ – den Fachbegriff für sozioökonomischen Strukturwandel – ins Spiel bringe, lächeln sie wissend.
„Wer den Begriff Gentrifizierung buchstabieren kann“, sagen sie, „ist Teil des Problems.“
Darüber muss ich nachdenken. Zuerst hol’ ich mir aber in der Fleischboutique eine Leberkässemmel.