In den Schornstein spucken
Von Christian Seiler
Ich gehe, weil ich eine Runde über den
Himmelhof gedreht habe, die Hietzinger Hauptstraße stadteinwärts und schwelge in Erinnerungen. Dort oben, wo ich gerade an der Mauer des Lainzer Tiergartens entlang marschiert bin, stand doch bis Ende der Siebzigerjahre eine Schanze, auf der tatsächlich Ski gesprungen wurde. Der Schanzenrekord, weiß das Archiv, betrug 42 Meter.
Ich gehe die Erzbischofgasse hinunter zur Ober St. Veiter Kirche, wo die Hietzinger Hauptstraße grußlos im Wolfrathplatz aufgeht, und lasse mich bergab treiben. Ich erinnere mich an der Kreuzung Schrutkagasse, dass hier einmal die Waggonfabrik „Rohrbacher“ stand, deren Gleise direkt hinaus auf die Straße führten, dann passiere ich auf Nummer 101 das Haus, wo Egon Schiele ein Atelier hatte und das Haus gegenüber, wo er vor exakt hundert Jahren starb.
Als ich zur Verbindungsbahn komme, senkt sich gerade der Schranken. Ich habe Zeit, ein bisschen zu warten. Ich sehe noch die Fundamente der Fußgängerbrücke, die hier über die Gleise der Bahn geführt hat, damit wir Fußgänger nicht darauf warten müssen, dass nach zehn Minuten Stille eine einzelne Lokomotive vorbeirattert, und wenn ich schon an Lokomotiven denke, fällt mir natürlich der süßliche Geruch ein, den die Dampfloks verströmten, wenn sie unter der Fußgängerbrücke durchschnauften, auf der ich ziemlich sicher stand und versuchte, direkt in den Schornstein zu spucken, was, wie ich mir sicher war, jedes Feuer löschen und die Lok zum Stehenbleiben zwingen würde. Aber bevor mir das gelingen wollte, wurde entweder die Fußgängerbrücke abgetragen oder ich wurde erwachsen. Ich tippe auf eins.
Also stehe ich am Bahnschranken und frage mich, wie oft ich wohl noch hier stehen werde. Schließlich soll, habe ich einer ÖBB-Website entnommen, die Verbindungsbahn „attraktiviert“ werden – welch ein interessantes Wort, aber das nur nebenbei. Die Attraktivierung erfolgt laut der Visualisierung, die man hier (https://infrastruktur.oebb.at/de/projekte-fuer-oesterreich/bahnstrecken/ grossraum-wien/attraktivierung-verbindungsbahn) betrachten kann, durch eine Verlegung der Gleiskörper auf eine Brücke, unter der die Hietzinger Hauptstraße künftig durchführen wird. Eingerahmt von Schallschutzmauern wird dieser Gleiskörper dann weiter zur Veitinger- und Jagdschlossgasse führen, von dort nach Speising und weiter Richtung Meidling und Hauptbahnhof, aus der Sicht des Schnellbahnfahrers höchst erfreulich, Villenbesitzer finden den Plan vielleicht nicht so prickelnd.
Ein Güterzug rumpelt vorbei, wie automatisch beginne ich die Waggons zu zählen, es sind nicht viele, sechzehn. Die Schranken heben sich. Ich winke ihnen schüchtern zu, so wie sie mir, und gehe weiter Richtung Hietzing, wo jetzt nicht mehr der 58er, sondern der 10er verkehrt, und ich spüre in der Spätsommersonne die zufriedene Behäbigkeit dieses Bezirks, die in der Restauration Plachutta am Zwickel zwischen Hietzinger Hauptstraße und Speisinger Straße ihre Inkarnation erfährt, im wahrsten Sinne des Wortes. Weil, wenn man so will, ist Hietzing der Tafelspitz Wiens.
christian.seiler@kurier.at
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