Im Sitzen gehen, geht auch
Von Christian Seiler
Ich gehe manchmal im Sitzen, und weil es mir beim Sitzen nach einer gewissen Zeit unbequem wird, auch gern etwas in etwas flacherer Körperhaltung. Ob ich dann, ein perfekt auf meine Lieblingslage zugeschnittenes Kissen im Nacken, auf dem Rücken oder ohne weitere Hilfsmittel auf dem Bauch liege, hängt davon ab, welchen Weg ich gerade zurücklege, oder besser gesagt: Welches Buch ich gerade lese.
Die Position hängt nicht so sehr vom Inhalt als vielmehr von der Form des Buches ab, mit dem ich gerade auf Wanderschaft gehe – halt, das ist ein bisschen missverständlich ausgedrückt. Denn ich gehe keineswegs im realen Leben mit Büchern auf Wanderschaft, dazu ist mir das Wandern viel zu interessant. Aber ich lese mich mit Vorliebe durch die essenziellen Bücher, die zum großen Thema „Gehen“ erscheinen, weil sie meiner Leidenschaft (und dem großen Überthema dieser Kolumne) etwas Fundiertes hinzuzufügen haben und mir auf Umwegen erklären, was ich schon alles erlebt habe.
So lernte ich etwa den französischen Philosophen David Le Breton kennen, der in seinem schmalen Band „Lob des Gehens“ (Matthes und Seitz Berlin) – so leicht, dass ich das Buch jederzeit und einhändig auf dem Rücken liegend lesen kann – ewige Worte spricht: „Das Gehen ist Öffnung zur Welt. Es versetzt den Menschen zurück in das glückselige Gefühl seiner Existenz. Es lässt ihn in eine aktive Form der Meditation eintauchen und bedarf all seiner Sinne. Manchmal kehrt man verändert zurück, eher geneigt, die Zeit zu genießen, als sich den maßgebenden Dringlichkeiten unseres zeitgenössischen Daseins zu unterwerfen.“
Dann lege ich mich auf die Seite und begebe mich mit
Robert Macfarlane, diesem brillanten, gehenden Geisteswissenschaftler aus England, auf dessen „Alte Wege“ (Verlag Naturkunden), eine Reise auf Pfaden, Hohl- und Seewegen, die seit der Antike begangen und von Macfarlane höchst anregend zum Leben erweckt werden: „Dieses Buch“, schreibt er in der Vorbemerkung, „hätte nicht im Sitzen geschrieben werden können. Es handelt von der Beziehung zwischen Pfaden, Gehen und Vorstellungskraft, weshalb sich das Denken meistens im Laufen vollzog – und nicht anders hätte vollziehen können.“
Ich lächle mit Robert Walsers Eingeständnis, Autofahrern immer sein „böses und hartes Gesicht“ zu zeigen, staune über die Motive, die Yuval Harari in seiner „Kurzen Geschichte der Menschheit“ (Pantheon) für den Schwenk des Menschen vom vier- zum zweibeinigen Gang gesammelt hat und lasse den idealistischen Schwung des jungen Jean-Jacques Rousseau auf mich wirken, der sich dazu aufschwingt, das Gehen sozusagen zur Königsdisziplin der Zufriedenheit zu erklären: „Wieviel verschiedene Vergnügungen sammelt man nicht durch diese angenehme Art zu reisen in eins – die Gesundheit, die gestärkt, die Laune, die froh wird, ungerechnet! Ich habe immer diejenigen, die in sehr guten, sanft gepolsterten Wagen reisten, träumerisch, traurig, mürrisch, unbehaglich gesehen und die Fußgänger immer froh, leicht, mit allem zufrieden.“
christian.seiler@kurier.at
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