Ich suche Erbauung
Von Christian Seiler
Ich gehe durch eine der schönsten Gassen der Welt. Nichts schimmert, nichts glänzt, höchstens der Widerschein der müden Straßenlampen in den Pfützen, die sich nach einem Tag Regen hier und dort gebildet haben. Es ist Sonntag. Es ist spät, nach elf, und die Stadt, in ihrer ganzen barocken Großartigkeit, ist leer. Sie gehört also uns – meinem Regenschirm und mir.
Die Getreidegasse ist schnurgerade. Normalerweise ist sie ein Labyrinth. Bei Tageslicht drängen sich hier so viele Menschen, dass jeder Flaneur darauf achten muss, mit keinem anderen zu kollidieren. Nur eine Verquickung günstiger Umstände – Winter, Schlechtwetter und Sonntagabend – sorgt dafür, dass die Schönheit selbst Attraktion bleibt: die Enge der Gasse; die pittoresken schmiedeeisernen Geschäftstafeln, die einerseits Tradition, andererseits ensembleschützerische Vorschrift sind – selbst McDonald’s musste sich beim Kunstschmied eine altsalzburgerische Metallarbeit anfertigen lassen, um das eigene Logo (in Messing) in den Luftraum über der Getreidegasse ragen zu lassen. Das nenne ich Wertschöpfung.
Die Fassaden der Häuser, die seit Jahrhunderten ihre Form gefunden haben, strahlen jetzt ihr höchstes Gut ab: Zeitlosigkeit. So kann ich die Salzburger Altstadt als das empfinden, was sie war, was sie ist, und was sie wohl auch noch sein wird, wenn wir alle schon von unseren Smartphones adoptiert worden sind: eine harmonische Verdichtung von Schönheit, von klug gedachten Linien, von idealen Texturen – für einmal ohne Lederhosen, Loden und den imaginären Mozart-Soundtrack.
Jetzt höre ich nur das leise Fallen des Regens. Ich biege in den Alten Markt ein und schlendere zum Florianibrunnen, der in seiner Winterverpackung aus Plexiglas ein bisschen eingesperrt aussieht, werfe ein paar Blicke ins menschenleere, dunkle Café Tomaselli, das ich allerdings mehr liebe, wenn es offen hat. Dann gehe ich hinüber Richtung Dom.
Der Residenzplatz liegt jetzt groß, dunkel und prächtig vor mir. Kein Rikschafahrer, kein Jongleur, kein Typ mit Mozartperücke, der mich zu einer musikalischen Darbietung umleiten möchte. Kein Mensch weit und breit. Vor zweihundert Jahren wäre wahrscheinlich genau jetzt ein Nachtwächter auf mich zugestürzt, um mich zu fragen, was ich hier eigentlich zu suchen habe.
„Nun, guter Mann“, würde ich antworten, „ich suche
Erbauung.“
„So einen Bau kenne ich nicht“, würde der Nachtwächter antworten. „Aber ich kenne den Bau, wo ich Euch hinbringe, wenn Ihr nicht sofort nach Hause geht.“
Schon gut. Ich bringe mich auf den Kapitelplatz in Sicherheit, wohin mich der imaginäre Nachtwächter erstaunlicherweise nicht verfolgt. Hier betrachte ich die riesige, goldene Kugel des Bildhauers Stephan Balkenhol, auf der eine lebensgroße Männerfigur steht, nass, hemdsärmlig und leicht beschneit, und mir beim Betrachten der prachtvollen, fahl beleuchteten Festung Hohensalzburg Gesellschaft leistet.
Wir hatten einen schönen Abend, wir drei: der Mann von der goldenen Kugel. Mein Regenschirm. Und ich.