Ich gehe weiter
Von Christian Seiler
Ich gehe den Donaukanal entlang Richtung Schwarzes Meer. Bei der Urania biege ich auf den Fußweg ein, der parallel zur
Dampfschiffstraße verläuft, und ich genieße den Duft des Laubes und den Blick auf den Fluss, der gerade ziemlich anschiebt.
Unter der Franzensbrücke gehe ich weiter, passiere die kitschige Hundertwasseranlegestelle und schließlich die Rotundenbrücke, wobei ich ja von der Rotunde früher gar nichts wusste, außer dass sie in einem Lied von André Heller in Flammen aufgeht.
Die Rotunde war 1873 als größtes Kuppelgebäude der Welt im Wiener Prater errichtet worden, um der legendären Weltausstellung ein würdiges Zentrum zu sein. Eigentlich sollte sie danach wieder abgerissen werden, doch dafür fehlte das Geld.
Wie so manches Provisorium wuchs die Rotunde den Wienern ans Herz. Im eleganten Kuppelbau auf dem Gelände der heutigen WU fanden große Ausstellungen und Veranstaltungen statt, und es gab Pläne, die Rotunde zum Staatsarchiv umzubauen. Als das Gebäude 1937 bei einem katastrophalen Großfeuer bis auf die Fundamente niederbrannte, war das ein Stich ins Herz dieser Stadt. Heller hat das begriffen. Er singt vom Schmerz, der sich anfühlt „wia die Rotunde, wias brennd hod …“
Ich gehe weiter. Der Weg fordert jetzt meine Wahrnehmung heraus. Längst ist er nicht mehr asphaltiert und gebügelt, er tut vielmehr so, als wäre er ein richtiges Stück Wald mitten in der Stadt. Es ist wie in einem Eisenbahnabteil, in dem man die Augen zumacht und plötzlich das Gefühl hat, in die Gegenrichtung zu fahren. So fährt mir hier die Idee ein, irgendwo zu sein, wo nur der Himmel und das Wasser und die Bäume und mein Weg und ich sind.
Aber da passt etwas nicht zu dieser Idee. Denn die Autos, die Richtung Ostautobahn unterwegs sind, legen ihre eigene Tonspur unter die Bilder. Während die Optik Ruhe und Natur suggeriert, feiert der Sound den hässlichsten Technobeat der Stadt.
Ich gehe weiter, etwas ungeduldig auf der Suche nach dem urbanen Frieden dieser Jahreszeit, aber plötzlich ist mein Weg zu Ende. Unter der Schlachthausbrücke verengt sich der Donaukanal-Fußweg, eine Baustelle schneidet ihn ganz ab, eine Fußgängerstiege leitet mich auf die Brückenfahrbahn um. Ich suche einen Ausweg auf der dem Fluss zugewandten Seite der Brückenstütze, hinter der die Stiege hinaufführt. Dabei sehe ich, dass sich hier, gegen Windböen, neugierige Blicke und das wildeste Röhren der Lastwagenmotoren geschützt, ein Obdachloser seinen Schlafplatz eingerichtet hatte, Blick aufs Wasser, ein paar Sträucher und auf den Beton, der die befahrensten Straßen der Stadt trägt.
Ein Pappendeckel auf dem kalten Boden, ein Stück Glumpert als Kopfkissen, ein provisorisches Stück Frieden in der Kälte, im Lärm, und dieses verlassene, temporäre Zuhause rührt mich an, durchströmt mich mit schlechtem Gewissen und mit heißer, ein bisschen schuldbewusster Melancholie, die sich, genau, so anfühlt wie die Rotunde, wias brennd hod.