Leben/Gehen

"Der war eine faule Sau"

Ich gehe über den Parkplatz, wo privilegierte Beamte des Finanzministeriums und des Bundesrechenzentrums ihre Autos abstellen dürfen. Wenn ich aus der Richtung Schwedenplatz komme und der Verkehr auf der Vorderen Zollamtsstraße gerade dicht und abweisend ist, weiche ich gern dorthin aus, schlüpfe zwischen der Angewandten und der Punzierungskontrolle auf die urbane Brache, um für ein paar Minuten dem Autolärm zu entkommen und im Off des Innenstadtverkehrs zwischen ministerialen Rückseiten und aktuellen Baustellen Richtung U-Bahnstation Wien Mitte durchzuschlüpfen. Meine Schritte sind lang. Das liegt daran, dass auch meine Beine vergleichsweise lang sind, aber auch an meinem Bedürfnis, beim Gehen ein gewisses Mindesttempo zu erreichen. Andere, die mich manchmal begleiten, finden, dass ich schnell gehe, aber das stimmt nicht: Ich könnte viel schneller, und Geschwindigkeit ist bekanntlich etwas Relatives. Tatsache ist, dass ich manchmal auf Menschen auflaufe, die deutlich langsamer gehen als ich, oft ältere Stadtausflügler oder Mütter mit Kinderwagen, die doppelgleisig unterwegs sind. Ich versuche mich dann bemerkbar zu machen, indem ich absichtlich laut schlurfe oder huste oder mich räuspere, worauf die meisten den Weg frei machen und mich passieren lassen. Anderen ist freilich scheißegal, dass ich sie überholen möchte. Ins lockere Gespräch vertieft, beanspruchen sie das Trottoir von links nach rechts für sich, und wenn ich nach zwanzig, dreißig Meter, die ich mit gedrosseltem Motor hinter ihnen hergedackelt bin, vernehmlich „Pardon“ sage oder „Verzeihung“, schrecken sie auf und betrachten mich mit der milden Abschätzigkeit des Müßiggängers, dem die Eile des Hastigen wie die Sünde der Welt vorkommt. Ich kann in ihren Augen lesen: Chill, Oida. Dabei hab ich es gar nicht eilig. Ich will nur lange Schritte machen. Auf besagtem Parkplatz laufe ich auf ein Paar auf. Er, der Jüngere, sagt zu ihr, der deutlich Älteren: „Mir tut der Brenner überhaupt nicht leid. Der war eine faule Sau.“ Sie: „Aber dass er ihn jetzt vor Weihnachten rausschmeißt.“ Er: „Wann soll er ihn denn rausschmeißen? Irgendwann muss er ihn rausschmeißen.“ Sie schweigt. Er: „Soll ich dir was sagen?“ Sie schweigt. Er: „Ich würde 90 Prozent von der Abteilung rausschmeißen. Alles faule Schweine.“ Sie schweigt auffällig. Er: „Dich würd ich eh nicht rausschmeißen. Du hast eh nur mehr ein paar Jahre bis zur Pense.“ Sie: „Danke.“ Er schweigt. Sie: „An deiner Stelle tät ich aufpassen, dass er dich nicht rausschmeißt.“ Er, zornig: „Mich? Die faule Sau will mich rausschmeißen?“ Sie: „Er findet, dass du, wie soll ich sagen, eine faule Sau bist.“ Er schweigt, offenbar sehr erschrocken. Sie: „Aber ich hab ihm eh gesagt, dass du keine faule Sau bist.“ Er: „Danke.“ Jetzt räuspere ich mich vernehmlich. Die beiden aus der Human-Resources-Abteilung schrecken zusammen. Dann machen sie Platz, lassen mich durch und hoffen, dass ich ihnen nicht zugehört habe.