Der Atem der Geschichte ist eisig
Von Christian Seiler
Ich gehe durch den Donaupark und spüre den Atem der Geschichte. Der Atem der Geschichte ist eisig, deshalb muss ich mir die Kapuze meiner Jacke, die ein uneheliches Kind meines Daunenschlafsacks ist, über den Kopf ziehen und höre nur noch das Knistern des Kojotenfells, mit dem die Kapuze verbrämt ist.
Da ist die Geschichte des monumentalen Kreuzes, das 1983 für eine Messe des Papstes aufgestellt wurde, an der 300.000 Menschen teilnahmen. Es stammt aus einer Zeit, als der Eiserne Vorhang noch geschlossen war und der polnische Papst die Hoffnungen der Freiheitsbewegungen im Osten auf sich vereinte.
Da ist die Geschichte des Weges, der an der Papstwiese vorbeiführt und nach dem chilenischen Arzt und Präsidenten Salvador Allende benannt ist, der 1973 vom faschistischen General Augusto Pinochet aus dem Amt geputscht wurde und daraufhin Selbstmord beging. Ein offizieller Straßenname ist das freilich nicht, eher eine Art stiller Würdigung.
Einen offiziellen Namen trägt die nah gelegene Wallenberggasse, die nach dem schwedischen Diplomaten
Raoul Wallenberg heißt, einem Mann, dem zahlreiche ungarische Juden ihr Leben verdanken, als er sie während des Holocaust mit schwedischen Schutzpässen ausstattete. Wallenberg selbst verschwand 1945 in der Sowjetunion. Wann und unter welchen Umständen er dort starb, ist Gegenstand heftiger Spekulationen. Erst 2016 wurde Wallenberg in Schweden offiziell für tot erklärt.
Offiziell erinnert auch die Gilberto-Bosques-Promenade am östlichen Rand des Donauparks an einen Diplomaten, der während des Zweiten Weltkriegs dafür gesorgt hat, dass fast 40.000 Menschen, die von den Nazis verfolgt wurden, nach Mexiko ausreisen konnten. Bosques überschritt mutig seine Kompetenzen, um Menschen das Leben zu retten, Juden, Antifaschisten, Angehörigen der internationalen Brigaden. Dafür wurde er als der „mexikanische Schindler“ bezeichnet.
Ich gehe Richtung Donauturm, nachdenklich. Der Wind pfeift. Die Vergangenheit ist in Straßennamen gegossen, die Gegenwart undurchsichtig. Ich umrunde den Donauturm, verzichte darauf, den Lift nach ganz oben zu nehmen, denn es ist neblig, und Nebel von oben sieht noch deprimierender aus als Nebel rundherum. Ich gehe zurück Richtung Donaucity, die berühmt geworden ist für die Fallwinde, die schon manchen Fahrradfahrer vom Sattel gehoben haben. Bruno Kreisky hat hier seinen offiziellen Platz bekommen, vor dem Konferenzzentrum, gegen das im Jahr 1982 mehr als 1,3 Millionen Wahlberechtigte ein Volksbegehren unterzeichnet hatten: ein wichtiger Ort für Wien und eine paradoxe Gedenkstätte für die direkte Demokratie in Österreich, die gerade eine Renaissance erleben soll.
Es gibt jetzt nur einen, der mich trösten kann: der große Dichter Hans Carl Artmann, dem ein Politiker die Idee gestohlen hat, zwei Vornamen mit zwei Buchstaben abzukürzen. Seine Worte zieren die Fassade des Wohnparks Donaucity, auch wenn sie nicht mehr ganz leicht zu lesen sind: fliang fliang / fliang mechad e hoed kena / one maschinarii / wia r a fogal / auf fligln.
Geht mir auch so.