Das Schiff im Wienfluss
Von Christian Seiler
Ich gehe entlang der Linken Bahngasse stadtauswärts, und während ich auf den tiefgelegten Gleisen eine Garnitur der Schnellbahn Richtung Meidling abfahren sehe und die komplizierten Aufbauten auf der Decke von Triebwagen und Waggons bewundere, stelle ich mir vor, ich ginge am Wasser. Wäre doch nett, wie in Mailand am Naviglio Grande spazieren zu gehen, ganz sicher hätten dann ein paar kluge Köpfe auch ihre Bars und Imbisse hier aufgesperrt, und wir säßen hier oder dort auf eleganten Stühlen, würden Kiesel ins Wasser werfen und am Aperol Spritz nippen, während aus den Fenstern des Musikuniversität die Melodie eines übenden Pianisten schlüpfte und uns ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Nein, so abwegig ist der Gedanke nicht. Der Graben zwischen der Linken und der Rechten Bahngasse war tatsächlich einmal mit Wasser gefüllt. Die „Wiener Neustädter Steinkohlengesellschaft“ ließ mit gnädiger Unterstützung von Kaiser Franz II. zwischen 1799 und 1803 einen Kanal zwischen Wiener Neustadt und Wien anlegen, um ihre in Ödenburg abgebaute Steinkohle billig nach Wien zu verfrachten.
Die Trasse führte östlich am Wienerberg vorbei über Simmering, St. Marx und durch die damalige Vorstadt Landstraße, bis sie in das Hafenbecken vor dem damaligen Invalidenhaus mündete, das so groß wie vier Fußballfelder war und sich dort ausstreckte, wo heute das Hilton-Hotel, die RZB und das Village Cinema sind. Im Winter, wenn das Wasser zufror, traf sich hier ganz Wien am Hafenbecken, um eiszulaufen.
Ich gehe an der Musikuni, der ehemaligen Veterinärmedizin, vorbei und durchquere die Hundezone, die optisch und olfaktorisch in einem bemitleidenswerten Zustand ist. Bis 1848 zogen Rösser die symmetrischen Lastkähne an ihren Bestimmungsort, dann ließ Kaiser Ferdinand I. den Kanal verkürzen und übergab dessen Trasse der neuen Verbindungsbahn zwischen Nord- und Südbahn. Seither ist der Kanal, der zu seiner Zeit hinter dem Donaukanal und dem Wienfluss Wiens drittgrößtes Gewässer war, trockengelegt.
An etwas öden Wohnhaus- und Hotelfassaden vorbei gehe ich hinauf zum Rennweg, wo ich den unförmigen Komplex der Schnellbahnstation umrunde und auf der Rechten Bahngasse zurück Richtung Stadtpark gehe. Diese Seite des Kanals ist die lebendigere, allein schon wegen der Russisch-Orthodoxen Kirche, die direkt neben dem Areal des Sacré Coeur Position bezogen hat (und neben der Russischen Botschaft, was die hohe Anzahl fetter Diplomatenautos vor ihren Türen erklärt). Zwar steht die Kathedrale zum heiligen Nikolaus in ihrem historistischen Prunk und der Vorliebe des Baumeisters für die Farbe Gold ein bisschen unter Hundertwasser-Verdacht, aber das ist ungerecht: Ich schlüpfe, weil das Tor gerade offen ist, ins Innere der Kathedrale und muss mich berichtigen: Im Vergleich zur Innenausstattung ist der Bedarf an Gold für die Dächer zu vernachlässigen. Ich gehe weiter, guter Laune. Gebäude, die wie Kinderzeichnungen aussehen, machen mir immer gute Laune. Eine Schnellbahn nach Wien Mitte rumpelt vorbei. Wäre sie doch ein Schiff.
christian.seiler@kurier.at
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