Das Maul von Kermit, dem Frosch?
Von Christian Seiler
Ich gehe die Favoritenstraße stadtauswärts, das ist eine Herausforderung. Denn die Favoritenstraße ist lang, 5,7 Kilometer, und erzählt unzählige Geschichten, die ich wie einen Rucksack mit mir herumschleppen muss. Auf dieser Straße, die ursprünglich Wimpassinger Weg hieß, verließ man Wien traditionell – genau, über Wimpassing an der Leitha – nach Ödenburg und Ostungarn. Nachdem das kaiserliche Lustschloss „Favorita“ gebaut worden war, das heutige Theresianum, wurde die Straße umbenannt und hieß zuerst Kaiserweg, dann Favoritenstraße, und ab 1873 führte hier eine Pferdebahnlinie vorbei, die den Schwarzenberg- mit dem Keplerplatz in der Vorstadt verband.
Ich gehe zuerst den bürgerlichen, unverhübschten Teil der Favoritenstraße entlang, am Theresianum vorbei, an einem Hotel, dem Bertha-von-Suttner-Hof, einem Comicgeschäft, dann komme ich schon zum Südtirolerplatz, der in seiner quälenden Behäbigkeit einen urbanen Riegel zwischen viertem und zehntem Bezirk darstellt, den es übellaunig zu überwinden gilt, weil die Favoritenstraße ja bekanntlich in Favoriten wiedergeboren wird, nämlich aus der Krümmung der Sonnwendgasse – über alles, was dazwischen liegt, die Asphaltbrache des Busbahnhofs, die patscherten Portale des Hauptbahnhofs, breiten wir lieber den Mantel des Schweigens, weil es jetzt nämlich interessant wird: Hier im Zehnten nimmt die Favoritenstraße nämlich Haltung an und verwandelt sich in einen lebendigen Boulevard, schnurgerade und belebt und ziemlich heiter.
Ich promeniere – das kann man hier – zum Keplerplatz, wo etwas zurückgesetzt die monumentale Keplerkirche steht, die lange Favoritens einzige Kirche war, der Petersdom für Wiens Proletariat. Geschäfte, Hütten, Wirtshäuser, Imbissläden, sogar die Weihnachtsstandeln werden schon wieder aufgebaut, und meine Heiterkeit, die mit dem Treiben auf der Straße korrespondiert, steigt, als ich schon in Sichtweite des Viktor-Adler-Markts bin und vor Hausnummer 118 eine Pause einlege.
Der Stahlbetonbau aus den frühen Siebzigerjahren ist eine Wucht. Die Fassade scheint zu fließen, sich aufzulösen, zu schmelzen, und der Schwung des Portals schaut dem Maul von Kermit, dem Frosch, zum Verwechseln ähnlich.
Früher war in diesem Bau des Architekten Günther Domenig eine Filiale der Zentralsparkassa untergebracht, irgendwann später der Echo-Verlag, jetzt niemand, der so stolz darauf wäre, dass er sein Firmenschild sichtbar an die Tür hängt. In der ehemaligen Kassenhalle werden billige Taschen und Koffer verkauft, und es fällt mir schwer, die Grandezza des Raums – eine Mischung aus Funktionalismus mit seinen sichtbaren Rohren und Leitungen und einer gehörigen Prise Hundertwasser – zwischen dem Glumpert zu entdecken. Hinter einem Stapel von billigem Leder wächst eine überdimensionale Hand aus der Wand, jeder Finger so dick wie ein Schenkel. Worauf deutet diese Hand? Welches Geheimnis hält sie fest? Wem gehört sie überhaupt?
„Keine Ahnung“, sagt die Verkäuferin, an die ich diese Frage weitergebe. „Vielleicht dem Chef.“ Stimmt immer.