Christian Seilers Gehen: Wo der Kuchen reserviert wird
Von Christian Seiler
Zuerst ging ich die Wolkersbergenstraße stadtauswärts, vorbei an der Siedlung Hermeswiese, dann am Krankenhaus Hietzing, dessen eindrucksvolle Pavillons ich nie betrachten kann, ohne an meinen Vater zu denken, der hier vor fast 27 Jahren gestorben ist.
Gerade wäre er achtzig Jahre alt geworden, wie gerne hätte ich mit ihm gefeiert. Wahrscheinlich wären wir beim Plachutta in Hietzing gesessen und hätten Tafelspitz gegessen und mit ein, zwei Seideln Bier angestoßen. Sein Stammlokal, der Schlusche in Speising, hat ja schon lange zu und an den Nachfolger konnte nicht einmal ich mich gewöhnen.
Ich war also in Gedanken, ein bisschen melancholisch, außerdem hatte ich schon ein paar Kilometer in den Schenkeln, ich war von Rodaun stadteinwärts marschiert, die Sonne stand schräg über dem Spitalskomplex, und ich war überrascht, als ich ein kleines Café entdeckte, das hier, im Erdgeschoß des Eduard-Popp-Hofs aufgesperrt hat. Es trägt den interessanten Namen „Allgemein“ und hat ganz ausgezeichnetes Sauerteigbrot im Angebot, aber ich entschied mich für den Apfelkuchen, der einen besonders feinen Eindruck machte.
„Leider“, sagte der Cafétier. „Der ist reserviert.“ Das gefiel mir. Ein Café, in dem man seinen Kuchen reservieren kann. Ich nahm stattdessen den Marillenkuchen und setzte mich an die große Scheibe neben dem Eingang, um ein bisschen in die Luft zu schauen. Manchmal muss ich vergessen, dass ich auch etwas Interessantes in der Zeitung lesen könnte oder auf dem Handy nachschauen, wie die Fußballspiele gerade stehen. Dann geht mir dies und das durch den Kopf, bald kann ich mich nicht mehr daran erinnern, aber wenn ich aufstehe, fühle ich mich wie frisch geduscht.
Als ich weiterging – auch der Kaffee war empfehlenswert –, betrachtete ich noch einmal das Haus, wo das „Allgemein“ sich eingemietet hat. Nur dreistöckig, ist der Bau gut strukturiert und trägt die typische, sachliche Schlichtheit der frühen Dreißigerjahre.
Lainz war noch nicht einmal Vorstadt, als hier das Krankenhaus und das Versorgungsheim entstanden, die mit einer Straßenbahnlinie an die Innenstadt angebunden wurden. Die Wohnhäuser wurden sozusagen auf den Acker gestellt, Platz gab es genug, die Häuser wurden großzügig verteilt, Grünflächen freigelassen, interessante Durchblicke ins Grüne geschaffen.
Etwas weiter Richtung Roter Berg, wo die Wolkersbergenstraße vom Versorgungsheimplatz unterbrochen wird, ging ich an Reihenhäusern vorbei, die miteinander eine Front, eine Struktur, ein Dorf ergaben: die Siedlung Lockerwiese.
Noch nie war ich eine der kleinen Gassen hinuntergegangen, die ins Herz dieser Gartensiedlung führen, aber heute schon. Die Siedlung umfasst 602 Einfamilien-Reihenhäuser, alle mit einem 70 Quadratmeter großen Garten ausgestattet. Natürlich hatten die ersten Bewohner hier Gemüse angebaut und Hühner gehalten. Heute flattern nepalesische Gebetsfahnen über schicken Gartenmöbeln.
Auch so erzählt sich Geschichte, dachte ich, und ging weiter auf den Roten Berg, um den grandiosen Blick über die Weiten von Wien zu genießen.
christian.seiler@kurier.at