Christian Seilers Gehen: Wie sich der Sommer langsam verabschiedet
Von Christian Seiler
Im westlichen Weinviertel, wo ich gern darauf achte, was die Jahreszeiten gerade vorhaben, beobachte ich, wie sich der Sommer langsam verabschiedet, nicht ohne mich immer wieder zu verwirren. Gestern zum Beispiel lud mich der Abend ein, draußen im Garten zu sitzen und den Grillen zuzuhören, immer wieder „Abusey Junction“ von Kokoroko zu hören und ein bisschen vom Neckenmarkter Blaufränkisch zu kosten, bis ich vom Zuhören schwer und matt werde und langsam in Morpheus’ Arme sinke.
Heute empfängt mich der Morgen mit Dunstschwaden über den Weinbergen, die verdächtig nach Nebel aussehen. Allerdings ist es kein Nebel, dazu ist es zu warm, und der Himmel liegt bleiern und tief über der Landschaft. Ich bin nicht sicher, ob er sich gleich öffnen möchte, um das Land einmal mehr zu begießen, wie so oft in diesen letzten Wochen, oder ob die Wolken sich auflösen werden, um der Sonne Platz zu machen.
Ich recke also meine Nase Richtung Himmel und wage eine Prognose: Es wird nicht regnen. Das ist übrigens ein Transfer urbaner Gewohnheiten ins Ländliche. Hier würde niemand seiner Nase vertrauen, sondern dem Wetterbericht: „Er hot g’sogt, es wird ned regna ...“
Es wird sicher nicht regnen. Deshalb lasse ich den Regenschutz zu Hause, als ich aufbreche, um eine meiner liebsten Runden zu gehen, über die Weinberge, Richtung Rohrbach und Kiblitz. Nachsehen, wie weit die Trauben sind. Ob schon jemand am Lesen ist. Wie grün das Laub noch ist (oder ob sich schon das eine oder andere gelbe Weinblatt ins Ensemble fügt – Antwort: sicher nicht. In diesem Jahr fiel so viel Regen, dass das Laub wahrscheinlich noch bis Mitte Jänner grün am Stock hängt).
Ich bin vielleicht eine Stunde unterwegs, als etwas Unvorhersehbares geschieht: Es beginnt doch zu regnen. Zuerst fallen nur ein paar Tropfen, die ich mehr höre als spüre, weil sie das Laub der Weinstöcke, zwischen denen ich gerade weit ausschreite, zu einer Art Rhythmusinstrument umfunktionieren, zu einem Naturschlagzeug, das ein begabter Percussionist zurückhaltend bespielt.
Aber wie das so ist mit diesen Schlagzeugern: Sie halten sich nicht gern mit den leisen Tönen auf. Der Sound legt also an Tempo zu, die Lautstärke schwillt ebenso an wie das Tempo, und es dauert keine vierundzwanzig Takte, und ich weiß endlich, was André Heller meinte, als er sang: „… und trommelte auch der Regen in den Tropen Neuguineas die Mangoblätter wund …“
Betrommelte Weinblätter klingen übrigens ganz anders als die Blätter vom Mais, aus denen die Tropfen dumpfere, hohlere Töne hervorholen, ganz im Gegensatz zum hellen Flirren in den Kronen der hochgewachsenen Scheinakazien, unter denen ich Schutz suche, Schutz wovor? Längst bin ich nass, aber weil der Sommer noch nicht aufgegeben hat, ist es warm, und es dampft, und ich höre dem spektakulären Konzert des Regens zu, für das sich selbst ein Genie wie Martin Grubinger ins Zeug legen müsste, und weil noch ein paar Minuten Sommer ist, ziehe ich das T-Shirt aus und gehe mit nacktem Oberkörper weiter, weiter und nach Hause.