Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: „Schleich di“

Ich wollte von Wien Mitte nach Heiligenstadt und entschied mich für einen Spaziergang am Donaukanal. Der Weg am Donaukanal ist eine sogenannte Fairnesszone: Das bedeutet, Fußgänger, Jogger und Flaneure, aber auch Skateboarder, Benützer von Elektrorollern und Radfahrer teilen sich die Fläche zum gemeinsamen Gebrauch, der idealerweise „fair“ sein soll – einer schaut auf den anderen, keiner beansprucht Platz auf  Kosten des anderen. Das ist, wie ich finde, eine schöne Theorie.
 Am Vorabend hatte ich einen Abend mit beseelten Radfahrern verbracht, die auch in der Lokalpolitik ein bisschen was mitzureden haben. Wir diskutierten über die Bruchlinien zwischen den mobilen Wienerinnen und Wienern. Jemand erzählte von einem Radfahrer, der einem Automobil, das ihn geschnitten hatte, mit dem schweren Bügelschloss eine tiefe Beule verpasst hatte – und wie schwer es ihm gefallen sei, nicht das Gefühl der „klammheimlichen Freude“ zu entwickeln.
Zu der Rivalität zwischen den mobilen Volksgruppen konnte ich natürlich auch einiges beisteuern. Nie bringt man Autofahrer so in Wallung wie beim späten Betreten des Zebrastreifens, den sie überqueren müssen, um links oder rechts abzubiegen. Wenn ich mir als Fußgänger das Recht herausnehme, das sich eilige Autofahrer bei mehr oder weniger jeder Ampel herausnehmen, nämlich bei grün-blinkendem Lichtsignal noch die Fahrbahn zu betreten, bekomme ich unvorteilhafte Aufforderungen zu hören – „Schleich di“ ist da sozusagen die Obergrenze der Höflichkeiten.
Ich ging am Kanal entlang durch die Fairnesszone. Das Wetter war gut, das große Geschwader der Radfahrer rückte zum vielleicht letzten großen Ausritt dieses Herbstes aus. Ich hielt mich wasserseits, erstens, weil ich es liebe, den Donaukanal zu betrachten, zweitens, um niemandem im Weg zu sein, zumal die gut trainierten Oberschenkel schon bei der Abfahrt von der Urania ein Tempo aufnehmen, bei dem ich nicht wirklich die Reaktionsfreudigkeit der Fahrer testen möchte. An der Schiffsstation vorbei, am „Feuerdorf“, das gerade aufgebaut wird, kam ich zu einer für mich neuen Abzweigung: Gerade erst sind die „schwimmenden Gärten“ bei der Kaiserschleuse eröffnet worden, ein wirklich gelungenes, herzerwärmendes Grünrefugium gleich gegenüber vom Flex, stabile Loungearchitektur über dem Wasser, eine fein ausgewählte Pflanzenauswahl, die schon jetzt, bevor die Zeit sie noch üppiger und zwangsläufig prachtvoller macht, pure Schönheit verströmen – und was haben wir in dieser Stadt notwendiger als Schönheit? Ich reihte mich in die Kohorte der Besucher ein, stand am Bug der Schleuse wie Leonardo DiCaprio in „Titanic“ – mhm, so ähnlich halt. Dafür ging ich nicht unter –, sah den Menschen zu, wie sie den Fluss betrachteten, lasen, in die Luft schauten. Es war ein kostbarer, aufmunternder Moment, bevor ich mich zurück in die Fairnesszone wagte und sofort von einem E-Biker auf Speed zurechtgewiesen wurde: „Des is a Radweg, Burli, schleich di.“
Ich rief ihm etwas nach. Aber er hörte mich nicht. Er war zu schnell.

christian.seiler@kurier.at