Christian Seilers Gehen: Die außergewöhnliche Gasse
Von Christian Seiler
Ich mag die
Löwengasse, weil sie eine ganz normale Wiener Einkaufsgasse ist – und ich mag sie, weil sie so außergewöhnlich ist. Das Außergewöhnliche ist schnell erzählt. In der Löwengasse befindet sich das Hundertwasserhaus, nach keiner anderen Sehenswürdigkeit werde ich von Passanten mit größerer Regelmäßigkeit gefragt wie nach dieser. Es reicht schon, wenn mir ein junges Paar mit Rucksäcken und Basecaps entgegenkommt, auf die Handys starrend, und ich antworte, bevor sie mich fragen: „Dort vorne die zweite links, dann kommt ihr direkt hin ...“
Natürlich haben sich rund ums Hundertwasserhaus ein paar Andenkenshops und andere potentielle Nutznießer der sich ständig erneuernden Laufkundschaft angesiedelt, das Fälschermuseum zum Beispiel und ein paar Galerien, die mittleren bis gehobenen Tand verkaufen, aber die übergehe ich jetzt im Fast-Forward-Modus. Vom Radetzkyplatz, einem meiner Wiener Lieblingsorte, gehe ich stadtauswärts, links ein Schreibwarengeschäft und eine Videothek, die eigentlich schon längst vom Aussterben bedroht sein müsste, aber nein, rechts der schöne Kolonitzplatz mit der neogotischen Pfarre St. Othmar unter den Weißgerbern: Die Weißgerber, nach denen dieses Viertel heißt, besiedelten nach der ersten Wiener Türkenbelagerung gemeinsam mit den Flecksiedern und Rotgerbern dieses Rückstaugebiet des Wienflusses. Berufsbedingt. Das Gerben von Tierhäuten ging mit starker Geruchsbelästigung einher, das wollte man in der Innenstadt nicht tolerieren. In das ehemalige Löwen-Kino ist ein Billa eingezogen, ein paar Sicherheitsfirmen haben sich angesiedelt, die einen verkaufen Safes, die anderen Schlüssel, es gibt eine Post und eine neapolitanische Pizzeria, und mir fällt auf, dass es keine Leerstände gibt, sondern Installateure, Elektriker, das sogenannte Kleingewerbe, das andernorts schon längst den Handyshops und Nagelstudios Platz gemacht hat, nicht aber in der Löwengasse.
Links das Hundertwasserhaus, ich fast forward, bis ich vor einem der wirklich grandiosen Bauwerke unserer Stadt stehe: dem Palais des Beaux Arts, einem fantastischen Jugendstil- und Art-déco-Gebäude, wo u. a. die Botschaft von Litauen residiert. Um einen eigenwilligen Eckturm mit dreifach abgestuftem polygonalen Glockendach schmiegen sich Fenster und Terrassen, wie spektakulär. Das Palais sollte ursprünglich „Chic Parisien“ heißen und als Modezentrum eine Verbindung nach Paris aufnehmen. Hat nicht geklappt, Wien ist sehr unpariserisch geblieben, aber trotzdem: Sollte hier eine Wohnung frei werden, bitte gebt mir Bescheid. Erspart den Umzug. Rechts schiebt sich der Rudolf von Alt-Platz an die Löwengasse, ich tänzle den Platz aus, dann springt mir das an der Ecke befindliche, riesige Buchantiquariat ins Auge, wo ich eine signierte Originalausgabe von H.C. Artmanns „Botanisiertrommel“ erstehe und vom freundlichen, schwäbischen Antiquar in die Sorgen der Bewältigung großer Kulturverlassenschaften eingeweiht werde.
Noch ein paar Schritte, dann kehre ich im Café Zartl ein. Trinke schwarzen Tee. Lese H.C. Artmann. Was für ein Leben.
christian.seiler@kurier.at
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