Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Irgendwo überquerte ich die Grenze

Der Bus spuckte mich dort aus, wo die asphaltierte Straße endet. Im Winter transportiert hier die Gampenbahn Skifahrer in Ischgler Höhen, aber jetzt ist der Weg den Wanderern vorbehalten – und den Radfahrern, die mit großem Vergnügen durch die Fimba Richtung Heidelberger Hütte schnüren. Es dauerte nicht lange, bis ich die engagierten Mountainbiker von den entspannten Inhabern gut aufgeladener E-Bikes schon aus hundert Meter Entfernung unterscheiden konnte. Man nennt das, glaube ich, Körpersprache: Die einen bilden mit ihrem Sportgerät eine Art Einheit. Jeder Tritt ins Pedal bewegt den gesamten Körper und versetzt ihn in Spannung und Entspannung, Spannung und Entspannung. Die anderen hocken auf ihrem Vehikel, haben Zeit zu lächeln, während sie die durchaus anspruchsvolle Steigung mit lässigen Bewegungen eher kommentieren als bezwingen. Das Verhältnis zwischen E-Bikern und Mountain-Bikern beträgt übrigens gemäß meiner qualifizierten Schätzung 10:1.
Ich stieg die Fimba bergauf und dachte darüber nach, warum im Paznaun das Wort „Tal“ so verpönt ist. Mein Freund Alfons, einer der führenden Sprachkundigen des Paznauner Dialekts, reagiert allergisch, sobald man dem Paznaun- ein -tal hinten andichten möchte – selbst wenn sich das noch nicht zu den Verantwortlichen des lokalen Busunternehmens durchgesprochen hat, das ausgerechnet „Paznauntaler“ heißt.
Ich wiederhole: Ich stieg nicht das Fimabatal, sondern die Fimba bergauf, und ich ließ die Macht und die Schönheit der zuerst sanft, dann schroff ansteigenden Bergflanken auf mich wirken. Ich ging gemessenen Schrittes, betrachtete die Herde von Pferden, die am Ufer des Fimbabaches Spaß hatte, war entzückt von dem Fohlen, das seine Proportionen noch nicht gefunden hatte, mit viel zu langen Beinen durch die Landschaft stakste und mit schierer Neugier seine Mutter aus der Fassung brachte.
Irgendwo überquerte ich die Grenze, die nur von einem simplen, von Edelweiß umkränzten Metallschild symbolisiert wird. Auf der einen Seite steht „Österreich“, auf der anderen „Schweiz“. Mein Ziel, die Heidelberger Hütte, gehört zwar zum Paznauner Hüttenverbund, liegt aber physisch im westlichen Nachbarland. Gezahlt wird in Euro.
Hierher führt der „Kulinarische Jakobsweg“. Sterneköche entwickeln Gerichte, die dann einen Sommer lang auf der Hütte gekocht werden – in diesem Fall „Kalbsbäckchen mit Süßkartoffeln und Ingwer“ von Tristan Brandt aus Mannheim. Prädikat: empfehlenswert.
Als ich den Abstieg begann, zogen Wolken auf. Das Panorama verdunkelte sich dramatisch. Die Dramatik wurde von den großen Schneefeldern, die noch immer in schattigen Hängen und Schluchten kleben, kontrastreich betont.
Die Fimba bergab, durch eine furiose Sommerlandschaft, Alpenrosen, Enzian, Hahnentritt, Murmeltiere, zurück nach Österreich, hinunter zur Mittelstation und von dort über einen Erlebnisweg samt wackelnder Hängebrücke hinunter ins Tal. Ist schneller erzählt als marschiert. Als ich vom Ischgler Kalvarienberg abstieg, zeigte mein Tacho zwanzig absolvierte Kilometer. Seither schlafe ich.

christian.seiler@kurier.at

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